Die Bewohnerin eines Altenheims wird beim Essen durch eine Pflegerin unterstützt.
Schon seit längerem ist der Fachkräftemangel besonders im Pflegebereich (im Bild wird die Bewohnerin eines Altenheims beim Essen unterstützt) groß. In den nächsten Jahren könnte es noch weit schlimmer werden, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.
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Der Fachkräftemangel könnte in den kommenden Jahren insbesondere in systemrelevanten Bereichen noch zu weit unerfreulicheren Folgen führen als bisher schon. Das geht aus einer Studie hervor, die das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) im Auftrag der Arbeiterkammer (AK) im ersten Halbjahr 2024 gemacht hat. Demnach scheiden in den kommenden fünf bis zehn Jahren allein durch Pensionierung an die 300.000 Personen mit systemrelevantem Job aus dem Arbeitsleben aus. Das ist bei etwa 1,5 Millionen Beschäftigten, die in den Bereichen Ernährungssicherheit, Gesundheit, öffentliche Verwaltung und Transportwesen arbeiten, ungefähr jeder Fünfte.

Möchte man nur das derzeit gewohnte Niveau – sei es an Öffnungszeiten, sei es an Dienstleistungen und Servicequalität – halten, müsste am schrumpfenden Arbeitsmarkt genau diese Anzahl an Personen – 300.000 – erstens gefunden und zweitens motiviert werden, ebendort eine Berufskarriere zu beginnen. Für Ines Stilling, Leiterin des Bereichs Soziales in der AK, wird das nur gelingen, wenn es zu deutlichen Verbesserungen in vielen dieser Berufsfelder kommt.

Warum systemrelevant?

Was sind nun die systemrelevanten Bereiche, auf die sich die Untersuchung bezieht und die ein gutes Drittel der österreichweit Beschäftigten umfassen? Es sind Branchen, die die Grundversorgung eines Landes und ihrer Gesellschaft sichern. Dazu gehört laut der Studie "Systemrelevante Beschäftigung in Zeiten demografischer Herausforderungen" der Bereich Ernährungssicherheit, von der Produktion über die Verarbeitung bis zum Verkauf der Ware. Zweitens das Gesundheitswesen inklusive Alten- und Behindertenbetreuung; dazu die öffentliche Verwaltung, von Schulen über Wasserversorgung bis zur Polizei. Last but not least zählt auch das Transportwesen dazu. Dieses sollte selbst in Stresssituationen wie während Corona in der Lage sein, Menschen und auch Waren von A nach B zu bringen.

Das Gesundheitswesen steche hervor, weil sich dort gleich mehrere Herausforderungen akkumulierten. Es scheiden nicht nur viele Arbeitskräfte altersbedingt aus diesem Bereich aus; parallel steigt, ebenfalls aufgrund der Demografie, die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen, weil die Bevölkerung nicht zuletzt dank der modernen Medizin älter und älter wird. Das wird in den kommenden Jahren zu einer zusätzlichen Nachfrage nach Arbeitskräften in diesem Bereich führen.

Erschwerend komme hinzu, dass die demografische Kurve in den Nachbarländern einen ähnlichen Verlauf zeige. Anders als in der Vergangenheit könne der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften in Österreich somit kaum aus diesen Regionen gedeckt werden. Was also tun?

Die Leiterin des Bereichs Soziales in der Arbeiterkammer, Ines Stilling.
Plädiert für verstärkte Aus- und Weiterbildung, auch und gerade im Sozialbereich in Österreich: Ines Stilling, Leiterin des Bereichs Soziales in der Arbeiterkammer.
Foto: Lisi Specht

Für Stilling liegt es auf der Hand: "Man muss intensiv in Aus- und Weiterbildung investieren und überlegen, wie man Menschen neue berufliche Perspektiven gibt." Mit Fachkräften aus Drittstaaten wie den Philippinen, um die sich das Wirtschaftsministerium im Einvernehmen mit der Wirtschaftskammer bemüht, werde man nie und nimmer das Auslangen finden, zumal Österreich in puncto Willkommenskultur nicht an vorderster Front stehe. "Wenn jemand spürt, er ist nicht erwünscht, wird er oder sie dorthin abwandern, wo das der Fall ist", sagt Stilling im Gespräch mit dem STANDARD.

Nach Ansicht der Leiterin des Bereichs Soziales in der Arbeiterkammer sollte man prioritär versuchen, die immer größer werdende Lücke nicht zuletzt durch Aktivierung der stillen Reserve im Land zu schließen. Die stille Reserve an Menschen, die einmal gearbeitet haben, sich dann aber aus unterschiedlichen Gründen zurückgezogen haben, beziffert Stilling unter Hinweis auf eine im Vorjahr präsentierte Studie auf 312.000 Personen. Dazu kommen noch knapp 140.000 unfreiwillige Teilzeitkräfte, die gerne mehr arbeiten möchten.

Attraktivierung der Berufe

Diesen Personen müsse aber etwas geboten werden, damit sie sich wieder oder mit mehr Stunden in den Arbeitsmarkt einbringen – von besserer Entlohnung bis zu weniger Stress am Arbeitsplatz. Auch Möglichkeiten der Kinder- oder Altenbetreuung sowie Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel spielten eine wichtige Rolle. Letzteres sei gerade in ländlichen Regionen häufig ein Grund, zu Hause zu bleiben, statt zu arbeiten.

Wie sich vor Jahrzehnten getroffene Entscheidungen später negativ auswirken können, zeigt sich beispielhaft in der öffentlichen Verwaltung. Dort ist laut der Studie in den kommenden zehn Jahren mit einem enormen altersbedingten Abgang zu rechnen, gut 140.000 Personen. Dort wurde in den 1990er-Jahren ein Einstellungsstopp verfügt, der zur Folge hat, dass die den ausscheidenden Kohorten unmittelbar nachrückenden Jahrgänge jetzt vergleichsweise schwach besetzt sind.

Investitionen rechnen sich

Laut Stilling sollten sich nun alle relevanten Stakeholder an einen Tisch setzen, um eine auch vom Rechnungshof urgierte Fachkräftestrategie zu erarbeiten. Neben den Ländern, die im Gesundheits- und Pflegebereich eine wichtige Rolle spielen, sollten auch die Trägerorganisationen im Bereich der Sozialversicherung, Bildungseinrichtungen, die Sozialpartner sowie Vertreter der Bundesregierung dabei sein.

Das Argument hoher Kosten, die mit einer Attraktivierung der Arbeitsplätze zwangsläufig einhergingen, lässt Stilling nicht gelten. Man müsse sich verabschieden vom Denken in kurzfristigen Budgetzeiträumen. Solche Investitionen machten sich auf längere Sicht auch gesellschaftlich bezahlt. Stilling: "Wenn ein Kind durch eine ausreichende Anzahl an pädagogischem Fachpersonal frühzeitig unterstützt wird, hat es weniger gesundheitliche und soziale Herausforderungen und ist zufriedener. Das kann sich auch positiv auf das Erwerbsleben auswirken." (Günther Strobl, 24.6.2024)