Annie Ernaux 1984
Etappen eines Lebens: Die Französin Annie Ernaux im Jahr 1984 bei der Präsentation ihres Buchs "La place", deutsch "Der Platz", in Paris. "Eine Leidenschaft" erschien dann 1992, also acht Jahre später.
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Die 1991 bei Gallimard erschienene Taschenbuchausgabe Passion simple zähltgerade einmal 66 Seiten und beschreibt etwas, was wir seit Viscontis Debutfilm von 1943 als Ossessione kennen: eine alles verzehrende Leidenschaft bis hin zur Selbstaufgabe. Ein Zustand, in den Ende der 1980er auch Annie Ernaux, damals noch Lehrerin und alleinerziehende Mutter, fast zwei schaurig-schöne, quälend-lange Jahre geraten war. Diese Passion einer Frau Ende vierzig wird nun von Suhrkamp bibliothekswürdig präsentiert, hier 80 Seiten für stolze 20 Euro, geradezu ein Schnäppchen im Vergleich zu den 15 Euro für die 32 Seiten, die Der junge Mann, auch er eine späte Leidenschaft, im vergangenen Jahr gekostet hat. Wäre es nicht Zeit für eine Werkausgabe? Dass Passion simple 1992 unter dem Titel Eine vollkommene Leidenschaft schon einmal als Fischer-Taschenbuch und 2004 als Goldmann-Taschenbuch auf den deutschsprachigen Markt kam, reißerisch-billig aufgemacht zwar, aber nahezu unbemerkt, ist eine andere Geschichte.

Eine Leidenschaft ist nicht mehr und nicht weniger als die sexuelle Revolution der kühl-intellektuellen Erfinderin autofiktionalen Schreibens, die, aus den prüden 1950er-Jahren kommend, hier erzählt wird. Nachdem Suhrkamp die Grande Dame der französischen Literatur erst spät entdeckt und seither, vor allem nach dem Nobelpreis von 2022, ihre schmalen Erinnerungsbände in jährlichem Abstand publiziert hat, glaubt man eigentlich alle Etappen im Leben der Autorin zu kennen, hat sie doch alle krisenhaften Ereignisse ihres Lebens zu Literatur gemacht.

Zum ersten Mal einen Porno

Alles beginnt damit, dass die Ich-Erzählerin zum ersten Mal in ihrem Leben einen Pornofilm im Fernsehen ansieht, in verschwommener Bildqualität zwar, da sie keinen Decoder hat, aber nachhaltig beeindruckend. Sie überlegt, wie Schreiben über Sexualität in ähnlicher Drastik aussehen könnte, wünscht sich ein männliches Pendant zu Courbets Ursprung der Welt.

Kurz darauf verfällt sie für zwei lange Jahre einem Mann, einem 13 Jahre jüngeren verheirateten russischen Diplomaten, A., mit dem sie intellektuell, emotional und gesellschaftlich nichts verbindet, der nur Körper für sie ist, sich aber gleichsam in ihren injiziert hat. Wie bei Drogensüchtigen muss die Dosis ständig gesteigert werden.

Die sonst so übergenaue Annie Ernaux, die immer alle Filme, Plakate, Chansons und Werbesprüche erinnert, wie wir aus ihrem Hauptwerk Die Jahre wissen, hat aus dieser Zeit alles Äußere, alles, was nicht Sex oder Warten auf Sex ist, vergessen. Alle Lebensenergie ist auf das nächste Treffen fokussiert, sie lebt im Warteraum der Begierde. Aus Angst, das Telefon zu überhören, benutzt sie weder Föhn noch Staubsauger. Ist jemand anderer am Apparat, stürzt sie in Verzweiflung. In ihrem ganzen bisherigen Leben war nichts so wichtig, wie das, was sich zwischen ihr und A. abspielt. Prüfungen, Kinder, Reisen – alles ist unwichtig geworden, was zählt, ist "l’amour l’après-midi", die studierenden Söhne müssen sich telefonisch anmelden, wollen sie vorbeikommen. Wenn der meist wortkarge Geliebte, der "eine entfernte Ähnlichkeit mit Alain Delon" hat, sie verlässt, ist sie nur noch "Zeit, die durch mich hindurchgeht". Die Stillleben nach seinem Weggang betrachtet sie intensiver als jedes Bild im Museum. Sie wäscht sich lange nicht, um das Sperma und seinen Geruch zu bewahren. Am nächsten Tag lebt sie davon, den Film rückwärts laufen zu lassen, rechnet nach, wie oft sie sich geliebt haben, was sie den bisherigen Gesten hinzugefügt hatten, im Wissen, dass man einen "Vorrat an Begierde" aus- oder erschöpfte.

Von Rendezvous zu Rendezvous

Er kennt im Französischen keine obszönen Ausdrücke oder hat keine Lust, sie zu benutzen, da sie in der Fremdsprache keinem sozialen Verdikt unterliegen. Er liebt Maßanzüge, Whisky, schnelle Autos und harten Sex. Sie lebt nur von Rendezvous zu Rendezvous, eher von Penetration zu Penetration, außer wenn sie neue "fringues", Klamotten, für das nächste Treffen kauft, die ihr dann vom Leib gerissen werden sollen. Sie bereitet sich vor wie auf ihr Schreiben, denkt sich Szenen aus bis ins kleinste Detail, blättert im Einkaufszentrum in Techniken der körperlichen Liebe. Sie vermeidet alle Art von Aktivitäten, die sie aus ihrer Obsession herausreißen könnten.

Sie selbst vermutet, dass dieser Wunsch, sich zu verbrennen, ein Reflex auf die vielen öden Jahre ist, in denen es nur das Warten auf das Wochenende, einen Restaurantbesuch, die Gymnastikstunde oder die Zeugnisse der Kinder gab. Sie hört keine klassische Musik mehr, nur noch sentimentale Schlager, liest Frauenzeitschriften und darin zuerst das Horoskop, will nur noch Filme sehen, die mit ihrer Geschichte zu tun haben, und ist enttäuscht, wenn diese wie Oshimas ImReich der Sinne nirgends gezeigt werden. Ihre Gefühlswelt ist wieder die ihrer Jugend: Vom Winde verweht, Phädra, die Chansons der Piaf.

Buchcover
Annie Ernaux, "Eine Leidenschaft", aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck, € 20,70 / 80 Seiten, Suhrkamp-Verlag 2024.
Suhrkamp Verlag

Frauen, über die getuschelt wurde

Wenn sie splitternackt Bier aus dem Kühlschrank holt, denkt sie mit Genugtuung an die Frauen im Viertel ihrer Kindheit, über die getuschelt wurde, dass sie nachmittags heimlich einen Mann empfingen, anstatt ihre Fenster zu putzen. Weder die Oberflächlichkeit des Geliebten noch sein geringes Interesse an Kunst und Literatur noch seine reaktionären politischen Einstellungen – Stalin, Todesstrafe, Homosexualität etc. – stören sie. Es gibt keine Blumen und keine Geschenke, nur "das Geschenk seiner Begierde".

Gleichzeitig geht es ihr wie allen Geliebten verheirateter Männer: quälende Eifersucht, vor allem an Wochenenden und Feiertagen, sie lebt im Leben der anderen eine Art Schattentheater. Sie lernt Russisch und liest Anna Karenina, um die innere Leere nicht zu spüren. "Leere" und "Verlassenheit" sind überhaupt die Schlüsselwörter in diesem spröden Text.

Verloren im Schattentheater

Als der fremde Liebhaber plötzlich ohne Abschied in sein Land zurückkehrt, verliert sie endgültig den Boden unter den Füßen, wird ihr Selbstverlust grenzenlos. Ihr ganzer Körper schmerzt, sie ist nur noch "leere Müdigkeit", Todeswünsche nehmen überhand. Schreibend versucht sie, sich selbst wieder zusammenzusetzen.

Annie Ernaux hat in ihren Texten schon viele Tabus gebrochen, sie hat uns mit ungewöhnlicher Drastik von ihrer Vergewaltigung in der Ferienkolonie berichtet, von ihrer heimlichen Abtreibung als Studentin, von ihren Schuldgefühlen als Klassenflüchtling gegenüber ihren tapferen kleinbürgerlichen Eltern, über Vereisungen in einer scheiternden Ehe, über die Demenzerkrankung ihrer Mutter, über die Liebe zu einem 30 Jahre jüngeren Mann etc. Auch persönlich war sie immer eine mutige Frau, so hat sie sich z. B. während einer Krebstherapie mit kahlrasiertem Schädel gezeigt, ist bei Demonstrationen häufig in der ersten Reihe zu sehen und klagt Frankreichs Präsidenten in einem offenen Brief für seine verfehlte Sozialpolitik an. Und manchmal unterschreibt sie auch fragwürdige Petitionen.

Dieser Tabubruch aus der Vorzeit der sexuellen Libertinage mutet uns heute etwas antiquiert an angesichts der überbordenden Sexualisierung aller Lebensbereiche. Neu und schockierend ist, wie eine Frau, die alles, was seit Jahrzehnten um sie herum passiert, in Worte zu fassen sucht, zur sprach- und willenlosen Sklavin eines Mannes wird, der sie wie sich in dieser Beziehung auf das Körperliche reduziert. Es ist der Pornofilm auf Canal+, der ihren Wünschen und Begierden eine neue Richtung weist. Stolz berichtet sie später, im Kamasutra nichts ausgelassen zu haben.

Se perdre, sich verlieren

Merkwürdigerweise veröffentlicht Ernaux 2001 nach einer Moskau-Reise die Tagebücher, die sie während ihrer Passion, ihrer Leidenschafts- und Leidensgeschichte, geschrieben hat, unredigiert, wie sie sagt, unter dem Titel Se perdre (Sich verlieren). Diese Eintragungen sind nicht nur sehr viel umfangreicher, 283 Seiten, als Eine Leidenschaft, sie erzählen auch die Geschichte dieser Amour fou in allen, auch erotischen Details und sind nicht nur ein illusionsloses Resümee eines Selbstverlusts. Hier wird in beschriebenen Traumsequenzen auch deutlicher, was Annie Ernaux in dieser exzessiven sexuellen Begegnung, die mehr Hörigkeit als Befreiung ist, sucht: das Gespiegeltwerden, das sie als ungeliebtes Kind nicht ausreichend erfahren hat, das Ausblenden der Angst vor Einsamkeit und Alter. Es ist vielleicht das interessantere Buch, und eigentlich hätte man beide zusammen auf Deutsch herausbringen können. (Barbara von Machui, 23.6.2024)