Zu sehen ist Milo Rau im Zeugenstand der
Milo Rau stand bei den "Wiener Prozessen" selbst vor Gericht. Hat er etwa Steuergeld verschwendet? Er wurde freigesprochen.
APA/Tobias Steinmaurer

Eine "Freie Republik Wien" auszurufen, wo ringsum ohnehin eine freie demokratische Republik existiert, ist keck, wenn nicht unverschämt, und gehört zu den vielen Widersprüchen, die Milo Rau und seine Kunstarbeit prägen. Der Schweizer Theatermacher, der heuer sein Debüt als Festwochen-Intendant gab und das Festival von Beginn an als dezidiert politischen Handlungsraum deklarierte, irritiert eben gern. Die dafür gewählten Mittel mögen manchmal eitel oder gar heuchlerisch erscheinen – zumal sie oft mit der Person Raus selbst direkt in Verbindung stehen –, ihre Wirkung verfehlen sie aber nie. Die Festwochen 2024 kann man mit ihren 95 Prozent Auslastung als Erfolgsedition verbuchen, die es geschafft hat, wahrlich Stoff zu geben.

Milo Rau, der sich mit künstlerisch-politischen Manifesten hervorgetan hat und seine Inszenierungen regelmäßig auch an krisenbehafteten Orten wie in der einstigen IS-Hochburg Mossul, im vom Bürgerkrieg geprägten Kongo oder bei der Landlosenbewegung in Brasilien realisiert, ist davon getrieben, seine Möglichkeiten als Kunstschaffender agitatorisch für einen Weckruf nach dem anderen zu nützen. Und so hat er seine ersten Wiener Festwochen auch im Wissen darum programmiert, dass sie im Jahr einer entscheidenden Nationalratswahl stattfinden, einer Wahl, die das Menetekel einer mit dem Faschismus spielenden Partei vor sich sieht.

Zu sehen ist das Ensemble von
Eine der interessanten Neuentdeckungen bei den Festwochen 2024 war die Arbeit der brasilianischen Regisseurin und Performerin Carolina Bianchi: "Die Braut und Goodnight Cinderella". Sie ist Teil eins einer Trilogie.
Christophe Raynaud de Lage

Die bunten Sturmhauben, die Ausrufung einer "Freien Republik" und das dazugehörige politische Vokabular, die zur unübersehbaren Corporate Identity dieser Festivalausgabe wurden, sind unbedingt in Hinblick auf diese volatilen politischen Verschiebungen zu lesen. Es ging diesen Festwochen um eine gezielte Politisierung der Öffentlichkeit, um die Ausweitung des Interessengebiets, um das Standpunkte-Schärfen. All das nahm bereits bei der Eröffnungsrede des Philosophen Omri Boehm auf dem Judenplatz seinen Ausgang, die einer unerwartet aggressiv geführten, aber durchaus lehrreichen Debatte Raum gab.

AfD-Chefin applaudiert

Das politische Handlungsfeld bleibt auf dem Festivalboden natürlich auch nur ein "wundervolles Zwischending", wie ein Stück von Martin Heckmanns heißt. Denn bei einer solchen Behauptung sind die Grenzen zwischen Realität und Nur-so-tun-als-ob immer durchlässig. Saß Irmgard Griss bei den "Wiener Prozessen" als beeidete Richterin oder als Laiendarstellerin auf der Bühne? Hat Carolina Bianchi während ihrer Performance Die Braut und Goodnight Cinderella tatsächlich K.-o.-Tropfen genommen? Werden sich die Festwochen an die von einem Rat ausgearbeitete "Wiener Erklärung" (sie wird am 23. Juni präsentiert) in den kommenden Jahren tatsächlich halten, so wie im normalen Leben eine Verfassung Grundlage des Zusammenleben bildet? Die Antworten darauf liegen im Dazwischen. Als Probeläufe der Wirklichkeit stoßen sie damit dennoch weiter, als es sonst in der Kunst üblich ist, ins reale Leben hinein.

Zu sehen ist eine Szene aus
Milo Rau hat seine Genter Inszenierung "Medea's Kinderen", die das Drama aus Sicht des Nachwuchses erzählt, nach Wien geholt.
Foto: Michiel Devijver

Auf diesem Grat spielt Milo Rau seit jeher und besonders bei den "Wiener Prozessen". Hier wurde, als die FPÖ auf die Anklagebank gerufen wurde, nicht nur deutlich, wie mühsam es ist, anderen Sichtweisen zu folgen, und wie langwierig, zu einem Schluss zu kommen. Vor allem kam es zu ungewöhnlichen Effekten. Das Publikum beklatschte beim Schlussapplaus die FPÖ-Verteidigerin Frauke Petry, während sie wiederum, immerhin Ex-AfD-Vorsitzende, zögerlich einem Festivalformat applaudierte, dessen Chef sich selbst schon als linksradikal bezeichnet hatte.

Rund 49.000 Karten waren heuer aufgelegt, rund 49.000 Menschen nahmen, so die Auskunft der Festwochen, an künstlerischen Projekten bei freiem Eintritt und bei vielen Diskurs- und Workshopformaten teil, unter anderem auch im Festivalzentrum im Volkskundemuseum in Kooperation mit der Klimabiennale Wien. Durch das Streamingangebot sowie das Fernsehen erhöht sich die Reichweite auf 430.000 Zugriffe. In Zeiten postpandemischer Publikumszurückhaltung und schwerwiegender globaler Krisen, die der Kunst eine eskapistische Funktion zuschieben wollen, sind diese Zahlen bemerkenswert.

Antisemitismus, Femizide

Selten zuvor gaben die Festwochen ein so stringentes Bild ab wie in diesem Jahr, beginnend beim Eröffnungsfest am Rathausplatz, das sonst als ein vom Rest des Programms abgekoppelter Konzertabend fungiert, bis hin zur Schlussprozession Exhaust/Ajax von Kris Verdonck am Samstagabend (22. 6., 20.30 Uhr), die Rau wie so manch anderes vom NT Gent nach Wien lotst und die noch einmal mit einem klimapolitischen Statement den Stadtraum aufmischen wird.

Es waren die virulenten Diskursthemen, die die Festwochen 2024 aufgegriffen haben: Klima, Antisemitismus, Femizide, Faschismus, Geschlechter- und Kirchenpolitik, politische Teilhabe, und als Selbstkritik kam auch die Saturiertheit des eigenen Kulturbetriebs aufs Tapet. Der Festivalchef verstand es nicht nur, die Festwochen-Fahne höher zu hängen, das Festival ins Gerede zu bringen, sondern darüber hinaus auch, dem Publikum jenes Theater zu bieten, das einer Theaterstadt wie Wien schlichtweg zusteht. Fast alles ging auf. Neben faszinierenden Arbeiten von Kornél Mundruczo, Florentina Holzinger oder Caroline Guiela Nguyen schaffte Rau auch Jelineks Angabe der Person und kurzfristig auch René Polleschs Vermächtnis ja nichts ist ok herbei. Bei den Festwochen läuft es derzeit also – ziemlich "ok". (Margarete Affenzeller, 22.6.2024)