Die Zentralmatura 2024 ist beendet, der überwiegende Teil der Maturantinnen und Maturanten hat, wie in den vergangenen Jahren, bestanden. Geht es nach Bildungsminister Martin Polaschek, wird die Reifeprüfung nächstes Jahr ohne die Pflicht zur vorwissenschaftlichen Arbeit ablaufen. Da spießt es sich allerdings mit den Grünen – trotzdem will Polaschek inmitten der Koalitionskrise in den nächsten Wochen zumindest in den Schulen für Klarheit sorgen.

Bildungsminister Martin Polaschek hält am Religionsunterricht fest.
Heribert Corn

STANDARD: Herr Minister, würden Sie heute in die Schule gehen, würden Sie dann den Religionsunterricht besuchen?

Polaschek: Ich habe vor 40 Jahren maturiert, das ist lange her. Aber ich fand den Religionsunterricht interessant. Warum nicht?

STANDARD: Wie passen Religionsunterricht und Wissenschaft für Sie zusammen?

Polaschek: Der Religionsunterricht ist verfassungsrechtlich verankert. Er ist ein Grundrecht. Es ist nicht zielführend, ihn abzuschaffen. Wenn Religionsunterricht im außerschulischen Bereich praktiziert werden würde, ginge auch die Kontrolle darüber verloren. Solange Schulen als Aufsichtsbehörden ein Auge darauf haben, hat man die Möglichkeit, allfälligen Radikalisierungen entgegenzuwirken.

STANDARD: 35 Prozent der Wiener Volksschüler sind muslimischen Glaubens, 37 Prozent gehören einer christlichen Glaubensrichtung an, und mehr als ein Viertel ist mittlerweile ohne Bekenntnis. Die letzte Gruppe ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Ist der Religionsunterricht für alle überholt?

Polaschek: Es wäre falsch, zu glauben, dass wir das Thema Religion aus der Schule verbannen, indem wir es nicht unterrichten. Dass in der Oberstufe Ethik angeboten wird, halte ich für einen wichtigen ersten Schritt. Ich bin durchaus offen dafür, dass wir in einer neuen Legislaturperiode darüber reden, ob wir den Ethikunterricht als Alternative auch in anderen Schulstufen ausrollen.

STANDARD: In der Gesellschaft nimmt die Polarisierung zu. Wäre der Ethikunterricht ein Ort, wo über die Konfessionen hinweg alle Schülerinnen und Schüler über das gemeinsame Zusammenleben sprechen und mehr über die anderen Religionen erfahren?

Polaschek: Schule spiegelt unsere Gesellschaft wider. Es ist daher wichtig, dass in der Schule auch Grundwerte wie Toleranz und Offenheit vermittelt. Ich glaube nicht, dass es allein durch ein eigenes Unterrichtsfach möglich ist, das den jungen Menschen zu vermitteln. Für mich ist klar: Der Religionsunterricht bleibt.

STANDARD: Nach einer erstinstanzlichen Entscheidung hätte die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) eine islamische Religionslehrerin diskriminiert, die kein Kopftuch tragen wollte. Muss die Monopolstellung der IGGÖ bei der Ausbildung von islamischen Religionslehrerinnen und Religionslehrern hinterfragt werden?

Polaschek: Würde der islamische Religionsunterricht nur im Privaten stattfinden, hätten wir überhaupt keine Handhabe mehr darüber. Es gibt auch andere religionspädagogische Ausbildungen – etwa an der Uni Wien oder der Uni Innsbruck.

STANDARD: Aber man muss nicht an die Uni.

Polaschek: Ja, aber je mehr Angebote es gibt, desto mehr wird auch der Druck steigen.

STANDARD: Rund 2300 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter und 3400 Kinder bis sechs Jahre sind über den Familiennachzug nach Österreich gekommen. Dazu kommen die ukrainischen Kinder. Wie soll das Schulsystem das stemmen?

Polaschek: Wir haben keine andere Wahl, als das zu stemmen. Wir werden entsprechend Maßnahmen setzen und haben das auch bereits, um die Lehrenden bestmöglich zu unterstützen, damit diese Kinder gut ins österreichische Bildungssystem integriert werden. Mit den ukrainischen Kindern ist das etwas einfacher. Sie waren schon in einem vergleichbaren Bildungssystem und können leichter integriert werden. Bei Kindern, die aus einer völlig anderen Kultur kommen, die zum Teil auch länger in Flüchtlingslagern gelebt haben, ist das schwieriger. Sie verfügen oft nicht einmal über Grundkompetenzen. Sie müssen wir bestmöglich integrieren. Integration bedeutet in erster Linie, die deutsche Sprache zu lernen.

STANDARD: Dabei halten Sie an den Deutschförderklassen fest. Expertinnen kritisieren diese seit Beginn. Wie soll Integration funktionieren, wenn die Kinder nicht in den Klassen integriert sind?

Polaschek: Wie soll Integration funktionieren, wenn beispielsweise nur ein Kind, das Deutsch spricht, in einer Klasse ist und die überwiegende Mehrheit in dieser Klasse nicht Deutsch spricht? Wie soll dieses Sprachenbad funktionieren, wenn der Anteil der deutschsprechenden Kinder im Extremfall sogar null ist? Das kann nicht funktionieren. Die Sprache können Kinder nur von entsprechend ausgebildeten Lehrkräften lernen.

STANDARD: Die Stadt Wien hat öffentlich wegen des Familiennachzugs um Hilfe gerufen. Und dem Bund vorgeworfen, dass er zu wenig tut.

Polaschek: Das hätte ich gerne von den Verantwortlichen der Stadt präzisiert gehabt. Wien wird mehr Ressourcen brauchen, aber die Ressourcen orientieren sich auch an der Zahl der Schülerinnen und Schüler. Es ist klar, dass es auch im nächsten Schuljahr für Wien zusätzliche Ressourcen geben wird. Ein großes Thema waren aber auch die Flächen. Also dass zu viele Kinder in Klassen untergebracht werden mussten. Wien ist der Schulerhalter, und da können wir nichts dazu beitragen.

Bildungsminister Martin Polaschek sagt: "Es ist ein Unterschied, ob jemand, der nicht über eine entsprechende Qualifikation durch ein Studium verfügt, eine Stunde in eine Klasse geht oder mit einer Klasse einen halben Tag verbringt."
Heribert Corn

STANDARD: Es herrschte schon lange Lehrermangel. Wie viele Ressourcen können Sie denn überhaupt noch zur Verfügung stellen?

Polaschek: Zum einen: Die Klasse-Job-Kampagne für Quereinsteiger greift. Zum anderen: Im Lehramtsstudium hatten wir im Vorjahr bei den Anfängerinnen und Anfänger eine Steigerung von 17 Prozent – das sind 950 junge Menschen mehr, die sich inskribiert haben. Und wir haben Entlastungspakete geschnürt. Wir haben die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter verdoppelt, das schulpsychologische Unterstützungspersonal um 20 Prozent erhöht. Jetzt kommt durch das Entlastungspaket 2024 weiteres pädagogisches Unterstützungspersonal dazu.

STANDARD: Wann gibt es den Quereinstieg in der Volksschule?

Polaschek: Wir haben eine intensive Diskussion auf Expertenebene darüber. Die Stadt Wien wird jetzt ein kleines, überschaubares Pilotprojekt machen. Wir sind gespannt, wie das funktionieren wird. Generell bin ich eher vorsichtig, was das angeht. Es ist ein Unterschied, ob jemand, der nicht über eine entsprechende Qualifikation durch ein Studium verfügt, eine Stunde in eine Klasse geht oder mit einer Klasse einen halben Tag verbringt.

STANDARD: Wenn Sie die Hilferufe von den Lehrenden und all die Herausforderungen, vor denen die Schulen stehen, betrachten: Könnten Sie sich vorstellen, Lehrer zu werden?

Polaschek: Ja, warum nicht? Es ist ein wunderschöner Beruf. Und es passiert wahnsinnig viel Gutes in der Schule. Aber leider ist die mediale Berichterstattung nicht gerade hilfreich.

STANDARD: Am 1. Juli starten die Schulferien in Wien – manche Eltern wissen nicht, wie sie die Kinderbetreuung in dieser Zeit organisieren sollen. Braucht es neun Wochen Ferien am Stück?

Polaschek: Ja. Es ist für die Schülerinnen und Schüler die Zeit, um sich eine Auszeit zu nehmen. Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass es entsprechende, freiwillige Betreuungsangebote gibt, um die Eltern hier bestmöglich zu entlasten. Für interessierte Schülerinnen und Schüler haben wir auch spannende Angebote, wie beispielsweise die Sommerschule oder Kinderunis. Wenn wir die Sommerferien verkürzen würden, würde das auch bedeuten, die Flexibilität zu nehmen.

STANDARD: Sie wollen die verpflichtende vorwissenschaftliche Arbeit abschaffen. Die Grünen sind dagegen. Eine Gesetzesänderung ginge sich vor dem Sommer nicht mehr aus. Werden Maturantinnen und Maturanten im nächsten Schuljahr eine verpflichtende Arbeit abgeben müssen?

Polaschek: Ich will mehr Wahlfreiheit. Wenn die Zahl der vorwissenschaftlichen Arbeiten weniger wird, kann man diese auch viel besser betreuen und kontrollieren. Wir sind in intensiven Gesprächen mit dem Koalitionspartner. Die Schülerinnen und Schüler brauchen Klarheit. Die Entscheidung wird vor den Sommerferien fallen.

STANDARD: Nicht nur bei der vorwissenschaftlichen Arbeit waren sich ÖVP und Grüne zuletzt uneinig. Es herrscht eine Koalitionskrise. Kann man überhaupt noch etwas umsetzen?

Polaschek: Es gibt den ganz klaren Willen, dass diese Koalition bis zuletzt arbeiten wird. Das werden wir auch tun.

STANDARD: Wollen Sie nach auch der Nationalratswahl noch Minister bleiben?

Polaschek: Wenn sich die Möglichkeit ergeben würde, wäre ich gerne wieder Minister.

STANDARD: Sie haben angekündigt, für eine Koalition mit der FPÖ stünden Sie nicht zur Verfügung. Sind Sie schon auf Jobsuche?

Polaschek: Nachdem von der FPÖ immer wieder grenzwertige Aussagen in Richtung Wissenschaft getätigt worden sind, wäre für mich in einer Regierung mit der FPÖ kein Platz. Ich werde das tun, was ich gelernt habe, und an die Universität zurückgehen. (Oona Kroisleitner, 21.6.2024)