Die deutschen Fans träumen bereits vom Pokal.
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Stuttgart – "Schland" schwebt, doch Julian Nagelsmann wollte auf der nächtlichen Fahrt durch die feiernde Fußballnation noch nicht in die "Berlin"-Sprechchöre einstimmen. "Ich singe nicht mit", sagte der deutsche Bundestrainer nach der Stuttgarter Party in Schwarz-Rot-Pink, schließlich müsse er weiter seine Arbeit machen. "Die Fans dürfen alle träumen", ergänzte Nagelsmann vor der Rückkehr ins EM-Quartier und zu den Familien. "Unser Job ist es, sie weiter träumen zu lassen."

Mit dem 2:0 im Härtetest gegen Ungarn haben Feingeist Ilkay Gündogan, Magier Jamal Musiala und Co bei den Fans die nächste Raketenstufe gezündet – der Himmel ist die Grenze. "Wir hoffen", sagte Kapitän Gündogan, "dass wir die Euphorie weiter entfachen können mit der Art und Weise, wie wir Fußball spielen, und die Menschen noch mehr begeistern." Toni Kroos assistierte so stilsicher wie zuvor auf dem Platz: "Es ist schön, dass die Nationalmannschaft immer noch in der Lage ist, das Land anzuzünden. Ich hoffe, dass uns das weit trägt."

Zunächst zum Gruppensieg im Vorrunden-"Finale" gegen die Schweiz am Sonntag (18 Uhr / Servus TV) in Frankfurt am Main. Ein Remis würde da reichen fürs erste Etappenziel, Nagelsmann aber forderte den nächsten Dreier. Als "Zeichen" an die Konkurrenz, aber auch für den berühmten "Flow" und die Chance, einem "Riesenbrocken" aus der Gruppe B mit Spanien und Titelverteidiger Italien aus dem Weg zu gehen. Marschiert die DFB-Auswahl wie letztmals bei der Euro 2012 mit drei Erfolgen in die K.-o.-Runde, würde dort "nur" der Zweite der Gruppe C warten.

Toni Kroos will auch gegen die Schweiz Vollgas geben.
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Kroos sieht daher "keinen Grund, kein Vollgas zu geben". Bei "dem einen oder anderen Turnier" habe es die DFB-Elf schließlich "gekillt", es zwischendurch langsamer angegangen zu sein. Es solle daher "nicht zu viel Ruhe einkehren", das eigentliche Ziel sei ja viel "größer als nur das Achtelfinale".

Kann es erstmals seit der EM 2016 bei einem großen Turnier darüber hinaus gehen? Stuttgart ließ in vielfacher Hinsicht darauf hoffen. Der "stille Leader", wie Antonio Rüdiger Kumpel Gündogan nannte, zeigte sein vielleicht bestes Länderspiel, das er mit der Vorlage zu Musialas Führungstor (22.) und dem 2:0 (67.) krönte.

"Wir müssen ihm alle mehr vertrauen in diesem Land", forderte Nagelsmann und verwies auf das "extrem clevere" Spiel seines Anführers. Gündogan gab das Lob weiter und schwärmte von der "Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Die Harmonie in der Mannschaft ist auf extrem hohem Niveau, es macht extrem Spaß, in ihr zu spielen."

Gold wert: Ilkay Gündogan.
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Zum Beispiel mit Musiala. "Ich liebe ihn", sagte Gündogan über den "vielleicht wichtigsten Spieler", dem Nagelsmann einen "brillanten" Auftritt bescheinigte. Weil er spielte, wie vom Bundestrainer empfohlen: "Wie auf dem Bolzplatz mit seinen Freunden."

Zum Beispiel mit Kroos. "Wenn wir uns nur für eine Millisekunde anschauen", sagte Gündogan über den Mann in seinem Rücken, "wissen wir, was der andere denkt oder vorhat." Nebeneinander auf der Doppelsechs hatte das nie so gut geklappt, "versetzt" aber stimmt "die Balance", wie Gündogan feststellte.

Zum Beispiel in der Defensive. Rüdiger zeigte nach Schlusspfiff beide Fäuste in der Kabine – aus gutem Grund: Erstmals stand in einem großen Turnier seit dem Achtelfinale 2016 die Null, zudem erstmals nach elf Pflichtspielen. Auch dank des neuen EM-Rekordkeepers Manuel Neuer, der mehrfach rettend eingriff. "Dafür ist Manu da", sagte Maximilian Mittelstädt und ergänzte schmunzelnd: "Wenn wir gar nichts zulassen, könnte mein kleiner Bruder auch ins Tor."

Zur Stelle: Manuel Neuer.
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Dass Neuer so stark in den Blickpunkt gerückt war, deutete Nagelsmann nicht als Schwäche seiner Elf, sondern als wichtigen Teil ihres "Reifeprozesses" um. "Die Mannschaft hat einfach einen guten Geist", sagte er über die Tatsache, dass sie das Gegentor mit aller Macht verhindert hatte.

Brenzlige Momente zu überstehen, meinte Kroos, "bringt einer Mannschaft enorm viel, das wird extrem wichtig sein in der K.-o.-Runde". Das wusste auch Nagelsmann bei seiner nächtlichen Busfahrt. (sid, 20.6.2024)