Die Beziehung zwischen Sol (Pia Hierzegger, li.) und Pflegerin Ivo (Minna Wündrich) ist freundschaftlich und sorgend.
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Alles ist gut hieß das gefeierte Filmdebüt der deutschen Regisseurin Eva Trobisch. Das Ensembledrama über eine Vergewaltigung und den Umgang, den seine eigenwillige Protagonistin (Aenne Schwarz) mit dem übergriffigen Arbeitskollegen findet, wurde 2018 beim Filmfestival von Locarno ausgezeichnet und manövrierte die 1983 in Ostdeutschland geborene Trobisch auf eine Liste namens "10 Directors to watch for" des US-Branchenblatts Variety. Sechs Jahre musste man nun Ausschau halten nach dem Nachfolgefilm. Beim Filmfestival in Berlin wurde er im Februar im Nebenwettbewerb Encounters vorgeführt und abermals gefeiert. Ivo heißt das neue Stück. Es könnte aber ebenso "Alles ist gut" heißen.

Die Titelheldin Ivo (Minna Wündrich) ist eine Palliativpflegerin Anfang 40. Tag für Tag fährt sie im Auto im Ballungsraum Nordrhein-Westfalen die Route ihre Patientenbesuche, allesamt Sterbenskranke, ab. Mit Windkrafträdern und Atomkraftwerken wirkt die Gegend ebenso pragmatisch wie Ivos Arbeitsalltag. Ihr Umgang mit den Sterbenden ist schon zur freundlichen Routine geworden. Zwischendrin beißt Ivo im Auto schnell in einen Wrap, weil sie sonst nicht zum Essen kommt.

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Die allermeisten ihrer Patienten sind bereits alt, aber eine fällt aus dem Rahmen. Solveigh (Pia Hierzegger) ist um die 50, verheiratet mit Franz (Lukas Turtur). Sie leidet an Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer unheilbaren Nervenkrankheit, die schrittweise das motorische Nervensystem lähmt. In der Darstellung der österreichischen Schauspielerin Pia Hierzegger glimmt in Sols Blick jedoch bei aller Tragik stets ein Funken Humor. Auf die Frage, wie sie sich auf die Rolle vorbereitet habe, erzählt Hierzegger, dass sie vor Drehbeginn keine Verbindung zu der Krankheit gehabt habe, dann aber ein Buch einer schwedischen Journalistin gelesen habe, die an ALS erkrankt ist und ihre Geschichte dokumentiert hat. "Während der Körper bewegungsunfähig wird, bleibt sie bei klarem Verstand. Sehr berührend und eindrucksvoll."

Herausfordernde Rollen

Sieht man sich das Rollenrepertoire Pia Hierzeggers an, fällt auf, dass sie auffallend wählerisch ist und selten danebengreift. Das liegt auch daran, dass sie sich auf junge Regisseurinnen und Regisseure einlässt. Legendär wurden ihre ersten Rollen bei Michael Glawogger, von Contact High bis Nacktschnecken. Mit ihrem Partner Josef Hader stand sie gemeinsam in Der Aufschneider und Wilde Maus vor der Kamera. Zuletzt spielte sie eine esszwänglerische Tante in Peter Hengls Family Dinner und eine kühle Mutter in Clara Sterns Langfilmdebüt Breaking the Ice.

Ihre Rollenauswahl erklärt Hierzegger so: "Ich bin immer neugierig auf neue Menschen und Arbeitsweisen. Ich freu mich, wenn Rollen anders sind als die, die ich bisher gespielt hab, und mich entweder körperlich oder spielerisch herausfordern. Bei Sol war es beides, die körperliche Herausforderung bestand allerdings darin, dass ich mich nicht bewegen durfte."

Pia Hierzegger hat einen unverwechselbaren Blick. Ernst und immer ein bisschen belustigt zugleich.
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Während Ivo ständig in Bewegung ist, ist Sol an die Couch gefesselt. Hierzegger kommuniziert nur in Blicken, mit vorsichtigen Regungen von Kopf und Händen. Ihre Sol bleibt rätselhaft. Das liegt auch an Trobischs Erzählweise, die sich im dokumentarischen Low-Budget-Stil des Direct Cinemas – oder des Defa-Kinos von Wolfgang Kohlhaase bis Andreas Dresen – an ihre Hauptfigur Ivo heftet. Ivo steckt ihre professionellen Grenzen weit. Gelegentlich spritzt sie sich das Morphium selbst, einmal rastet sie aus, mit Franz hat sie eine Affäre. Ob Sol davon weiß, es vielleicht sogar gutheißt, erfährt man nicht. Auch bleibt offen, ob Ivo schließlich Sols Wunsch nach der assistierten Selbsttötung nachkommt. Eine Spiegelung im Fenster verstellt in einer entscheidenden Szene den Blick auf die Kranke und ihre Pflegerin.

Krankheit, Tod, aber auch Humor beschäftigen Hierzegger auch in ihrem eigenen Filmdebüt. Unter dem Arbeitstitel Altweibersommer arbeitet sie gerade an einer Geschichte über drei Frauen in ihrem Alter, die bei ihrem traditionell gemeinsamen Urlaub mit dem Tod konfrontiert werden. "Klingt vielleicht nach Tragödie", sagt Hierzegger "ist aber auch lustig. Weil: So ist halt das Leben." (Valerie Dirk, 22.6.2024)