Kleinkind sitzt am Tisch und trinkt einen grünen Smoothie
Wer Kinder vegan ernähren möchte, sollte einige Nährstoffe gut im Blick haben, betont Ernährungsmedizinerin Carolin Wiedmann.
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Bei veganer Ernährung kennt die Trendkurve seit Jahren nur eine Richtung: nach oben. Immer mehr Menschen ernähren sich hierzulande rein pflanzlich. Mit fünf Prozent Veganerinnen und Veganern ist Österreich sogar klarer Spitzenreiter im Europavergleich. Der Trend zeigt sich zwar in allen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten, in einer Gruppe aber ganz besonders stark: Wer vegan lebt, ist häufig gut gebildet, hat ein höheres Einkommen, ist eher weiblich, jung – und oft mitten in der Familienplanung.

Dementsprechend beobachtet Carolin Wiedmann einen Trend: Immer mehr Eltern, die sich selbst pflanzenbasiert ernähren, wollen auch ihre Kinder so ernähren. Wiedmann ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und pädiatrische Ernährungsmedizinerin. Sie lebt selbst seit 2011 vegan und berät seit vielen Jahren Eltern in Sachen Ernährung. Und da zeigt sich: "Viele dieser Familien werden bei ihrem Vorhaben allein gelassen. Sie kommen schwer an gute, fundierte Informationen zu dem Thema, auch nicht bei Kinderärztinnen oder Kinderärzten."

Die meisten offiziellen Infoquellen und Broschüren gehen von einer mischköstlichen Ernährung mit tierischen Produkten wie etwa Kuhmilch aus. Das hat wohl auch damit zu tun, dass Fachverbände wie etwa die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) von einer veganen Ernährung insbesondere in sensiblen Lebensphasen klar abgeraten haben. In ihrem neuen Positionspapier zu veganer Ernährung kommt die DGE nun zu dem Schluss, dass sie weder eine klare Empfehlung für noch gegen eine vegane Ernährung im Kindesalter aussprechen kann. Wenn aber Eltern sich für eine vegane Ernährung ihres Kindes entscheiden, gibt sie die dringende Empfehlung, eine individuelle Beratung in Anspruch zu nehmen, und betont die Wichtigkeit eines fundierten Ernährungswissens. Um Eltern dahingehend zu unterstützen, hat Wiedmann gemeinsam mit der Biologin Anastasia Pyanova und der Biochemikerin Ozlem Erbas Soydaner das kürzlich erschienene Buch Plantbased von an Anfang an geschrieben.

STANDARD: Empfehlen Sie vegane Ernährung für Babys und Kinder?

Wiedmann: Ich empfehle, angelehnt an die Fachgesellschaften, eine vollwertige, pflanzenbetonte Ernährung. Wenn Eltern ihre Kinder vegan ernähren wollen und mit diesem Vorhaben zu mir kommen, unterstütze ich sie bestmöglich dabei. Denn ja, man kann Kinder durchaus vegan ernähren. Wichtig ist, dass man ein fundiertes Ernährungswissen hat und hinsichtlich der praktischen Umsetzung, der Gestaltung des Speiseplans und der Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln gut informiert ist. Hierzu sollten sich Eltern individuell beraten lassen.

STANDARD: Immer wieder gehen Schlagzeilen um die Welt, dass vegane Kinder völlig fehlernährt seien. In Florida sind Eltern eines vegan ernährten Kindes, das verstorben ist, des Mordes angeklagt, liest man in der US-Presse.

Wiedmann: Die Kombination der beiden Schlagworte Vegan und Mord ist natürlich Clickbaiting vom Allerfeinsten. Diese Fälle sind höchst tragisch, aber wenn man sich genauer anschaut, wie diese Kinder ernährt wurden, merkt man schnell, dass das nichts mit einer vernünftigen veganen Ernährung zu tun hat. Das sind Fälle von schwerer Mangelernährung, bei der die Kinder teilweise nur Reismilch, die so gut wie keine Nährstoffe enthält, und Obst bekommen haben. Man kann sich auch den ganzen Tag von Pommes und Ketchup ernähren, das wäre auch vegan, aber natürlich keine auch nur ansatzweise bedarfsdeckende Ernährung.

STANDARD: Nun wird vegane Ernährung schon bei Erwachsenen kontrovers diskutiert. Bei Babys ist das Thema wohl noch heikler. Sie bräuchten wichtige Nährstoffe aus tierischen Lebensmitteln, heißt es. Sehen Sie das anders?

Wiedmann: Es ist richtig, dass der Nährstoffbedarf in Wachstumsphasen deutlich erhöht ist, und es ist tendenziell leichter, den Bedarf unter Einbezug von tierischen Nahrungsmitteln zu decken. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung schreibt im aktuellen Positionspapier, dass eine vegane Ernährung bei Kindern grundsätzlich möglich ist, aber in dem Alter bezüglich der Nährstoffversorgung nochmal genauer hingeschaut werden muss. Säuglinge haben im Verhältnis zum Körpergewicht einen höheren Nährstoffbedarf als ein Erwachsener. Dazu kommt ein phasenweise selektiveres Essverhalten im Kleinkindalter, das macht es noch einmal schwieriger, den Bedarf zu decken. Aber grundsätzlich ist es sehr wohl möglich, Babys und Kleinkindern auch mit der veganen Ernährung alle essenziellen Nährstoffe zuzuführen.

STANDARD: Worauf kommt es dabei an?

Wiedmann: Säuglinge haben in den ersten ein bis zwei Jahren über die Muttermilch oder entsprechende Formula-Nahrung ein sehr nährstoffreiches Lebensmittel. Ab einem Alter von etwa sechs Monaten geht es nach der Zeit der ausschließlichen Milchnahrung dann darum zu wissen, wie man die Beikost möglichst nährstoffreich gestalten kann. Traditionellerweise enthält die Beikost neben Gemüse, Obst und Getreide Fleisch für die Eisenversorgung und Kuhmilch als Kalziumlieferant. Eltern, deren Kinder kein Fleisch bekommen, müssen auf die Integration von guten pflanzlichen Eisen- und Proteinquellen, insbesondere Hülsenfrüchte wie Linsen, Bohnen oder Kichererbsen, achten sowie auf eine ausreichende Fettzufuhr. Statt Kuhmilch können mit Kalzium angereicherte Pflanzendrinks und -joghurts, kalziumreiches Mineralwasser, grünes Blattgemüse, Tofu, Nüsse und Samen als Kalziumquellen verwendet werden. Darüber hinaus braucht es entsprechende Nahrungsergänzungsmittel. An einem Vitamin-B12-Supplement führt bei veganer Ernährung kein Weg vorbei, aber auch eine Supplementierung etwa mit Jod oder langkettigen Omega-3-Fettsäuren sollte mit dem Kinderarzt oder einer Ernährungsfachkraft besprochen werden.

STANDARD: Das können ganz schön viele Pillen werden. Viele fragen sich: Kann das gesund sein?

Wiedmann: Grundsätzlich ist das Ziel, so viele Nährstoffe wie möglich über Nahrung zu sich zu nehmen. Wobei Deutschland, Österreich und die Schweiz aufgrund jodarmer Böden aber beispielsweise Jod-Mangelgebiete sind. In unseren Nahrungsmitteln ist somit natürlicherweise wenig Jod enthalten. Daher hat man vor ein paar Jahrzehnten begonnen, neben der Jodanreicherung des Tierfutters auch das Speisesalz damit anzureichern. Das ist nichts anderes als eine Supplementierung, die halt über das Speisesalz läuft. Und wir wissen, dass dieses Jod hervorragend von unserem Körper aufgenommen wird. Seit der Einführung von jodiertem Speisesalz sehen wir einen deutlichen Rückgang von Erkrankungen, die auf dem Boden eines Jodmangel entstehen. Zudem bekommen alle Säuglinge in Deutschlang und Österreich ab dem siebten Lebenstag ein Vitamin-D-Supplement als Rachitis-Prophylaxe. Und in den ersten Lebenswochen dreimal Vitamin K zur Prophylaxe von Vitamin-K-Mangelblutungen. Also es wäre schlimm, wenn Nahrungsergänzungsmittel nicht wirken würden. Und wer sich vegan ernährt, hat bei B12 einfach keine andere Wahl, als es über Nahrungsergänzungsmittel aufzunehmen. Aber auch das funktioniert hervorragend. Das wissen wir schon allein deswegen, weil es ja auch Menschen gibt, die unabhängig von ihrer Ernährungsweise einen Vitamin-B12-Mangel aufgrund von Erkrankungen wie zum Beispiel Resorptionsstörungen bei Magenerkrankungen oder Einnahme bestimmter Medikamente wie Protonenpumpenhemmer haben und ein Vitamin-B12-Supplement benötigen.

Cover
In "Plantbased von Anfang an" zeigen die drei Autorinnen Carolin Wiedmann, Anastasia Pyanova und Ozlem Erbas Soydaner mit wissenschaftlich fundierten Hintergründen und mehr als 70 Rezepten, wie der Nährstoffbedarf von Mutter und Kind bei einer veganen Ernährung sicher gedeckt werden kann. 252 Seiten / € 30,90, Trias-Verlag, Stuttgart 2024
Trias Verlag

STANDARD: Die ersten 1000 Tage sind in Sachen Ernährung besonders entscheidend. Sie sollen den Grundstein für die gesamte weitere Gesundheit legen. Welchen Unterschied macht vegane Ernährung in dieser wichtigen Phase?

Wiedmann: Genau, die Zeit vom Tag der Konzeption bis zum zweiten Geburtstag des Kindes ist eine wichtige Grundlage für die Gesundheit dieses Menschen auch im späteren Leben. Zum einen spielt die Lebensweise der Mutter eine wichtige Rolle, also wie ernährt sie sich, hat sie viel Stress, bewegt sie sich ausreichend, raucht sie etc. Solche Faktoren können bereits im Mutterleib über sogenannte epigenetische Mechanismen die Gene des Kindes beeinflussen und das Risiko für die Entstehung von Krankheiten mit beeinflussen. Was die Ernährung angeht, findet insbesondere im frühen Kindesalter die Geschmacksprägung statt. Das, was wir in dieser Phase kennen und lieben lernen, werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit auch im späteren Leben in unseren Speiseplan integrieren. Das heißt, Babys und Kleinkinder, die vielfältig, vollwertig und abwechslungsreich ernährt wurden, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich auch im Erwachsenenleben gesund zu ernähren. Das Etablieren einer gesunden Ernährungsweise in der frühen Kindheit kann also eine Chance sein, das Risiko für eine ganze Reihe an ernährungsmitbedingten Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes zu senken.

STANDARD: Wie unterscheiden sich dabei vegan ernährte Kinder im Vergleich zu omnivor ernährten Kindern in ihrer Entwicklung?

Wiedmann: Im Rahmen der VeChi Diet Study (Anm.: Vegetarian and Vegan Children Study, mehr Infos hier, hier und hier) wurden ein- bis dreijährige vegane, vegetarische und mischköstliche Kinder untersucht, und man hat gesehen, dass die vegan ernährten Kinder hinsichtlich ihrer Gewichts- und Längenentwicklung sowie der Zufuhr von Nahrungsenergie und Protein mit mischköstlichen Kindern vergleichbar waren. Bei Neugeborenen von vegan lebenden Müttern sehen wir in den bisherigen Studien, dass das Geburtsgewicht tendenziell niedriger ist als bei Mischkost, sich im Schnitt aber im Normalbereich befindet. Wenn aber die Mutter nicht ausreichend Kalorien zu sich nimmt bzw. zu wenig Gewicht in der Schwangerschaft zunimmt, ist das Risiko für ein geringes Geburtsgewicht erhöht. Vegane Mütter scheinen gemäß der verfügbaren Studien kein erhöhtes Risiko für Schwangerschaftskomplikationen zu haben, und hinsichtlich mancher Komplikationen wie Präeklampsie scheinen sie sogar ein erniedrigtes Risiko zu haben.

STANDARD: Das sind alles Querschnittstudien, Langzeitdaten fehlen völlig. Der deutsche Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen nennt das als Grund, warum man von einer vegane Ernährung abrät. Warum tun Sie das nicht? Reichen Ihrer Meinung nach die bisherigen Studien aus?

Wiedmann: Das stimmt, es gibt noch keine Langzeitstudien. Das ist ein valider Kritikpunkt. Das, was wir bisher an Studien haben, sieht allerdings eher positiv aus. Die bisherigen Daten zeigen, dass vegane Ernährung auch bei Babys und Kleinkindern funktionieren kann und die Kinder sich gesund entwickeln können. Es gibt auch Hinweise, dass vegane Kinder bei hinsichtlich kardiovaskulärer Risikomarker besser aufgestellt sein könnten. Sie hatten in Studien zum Beispiel niedrigere Konzentrationen von LDL-Cholesterin, einem wichtigen Risikomarker für Arteriosklerose, im Blut als Kinder, die omnivor ernährt wurden, und verzehrten mehr gesundheitsförderliche Lebensmittel wie Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Nüsse und weniger Snacks und Süßigkeiten. Eine gut geplante vegane Ernährung könnte also auch Vorteile haben. Es gibt aber auch Hinweise aus anderen Studien, dass, wenn nicht ausreichend auf bestimmte Nährstoffe geachtet wird, die Knochengesundheit langfristig beeinträchtigt sein könnte. Es kommt eben wie gesagt auf die Umsetzung an.

STANDARD: Das Thema ist also komplex und braucht viel Fachwissen. Wie kann es dann sein, dass werdende Eltern, die ihre Kinder vegan ernähren möchten, selbst bei Ärztinnen und Ärzten oft nicht gut beraten werden?

Wiedmann: Zum einen sind Kinderärzte nicht immer ausreichend informiert über die Besonderheiten einer veganen Ernährung in sensiblen Lebensphasen, als dass sie Familien dahingehend gut beraten könnten. Zum anderen vermute ich, dass manche Ärztinnen und Ärzte glauben, dass sie mit einer negativen Einstellung gegenüber veganer Ernährung die Familien davon abhalten könnten, ihren Nachwuchs so zu ernähren. Dabei werden sie das ziemlich sicher trotzdem tun, aber dann halt schlechter informiert und schlechter begleitet. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung schreibt deshalb auch, dass sich Kinderärztinnen und Kinderärzte diesem Thema gegenüber offen verhalten sollten. Niemandem ist geholfen, wenn man vegane Familien direkt verurteilt und eine vegane Ernährung strikt ablehnt. Das hilft den Familien nicht und schadet potenziell den Kindern. Natürlich muss nicht jeder Kinderarzt Experte für vegane Ernährung werden, aber man sollte zumindest den Eltern offen gegenübertreten und ihnen aufzeigen, wo sie Hilfestellung bekommen.

STANDARD: Beobachten Sie hier in Fachkreisen eine Veränderung?

Wiedmann: Ja, viele Kolleginnen und Kollegen, die sich vor ein paar Jahren noch deutlich kritischer positioniert haben, öffnen sich dem Thema. Sie sehen einfach, dass die Nachfrage in der Praxis da ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie jetzt schon manche veganen Kinder seit mehreren Jahren begleiten und sehen: Diesen Kindern geht es wunderbar, und sie entwickeln sich einwandfrei. Da sind wir also weit weg von den Horrorfällen aus den Medien. Ganz im Gegenteil, vegan ernährte Kinder haben im Schnitt seltener gesundheitliche Probleme, die durch eine ungünstige Ernährung mitbedingt sind, wie beispielsweise Adipositas. Die allermeisten kommen aus sehr gesundheitsbewussten Familien, die Wert auf eine ausgewogene Ernährung legen. (Magdalena Pötsch, 24.6.2024)

Video: Wie vegan is(s)t Österreich?
DER STANDARD