Eine Dame und ein Herr in altertümlicher Tenniskleidung bei einem Spiel.
1925 spielte René Lacoste (hier im gemischten Doppel mit Suzanne Lenglen) noch ohne Krokodil auf der Brust, das tierische Logo entstand erst zwei Jahre später. Seine 1933 gegründete Modefirma bescherte einem jungen Angeklagten seinen Spitznamen.
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Wien – "Darf ich hinausgehen?", fragt die Mutter des 16-jährigen Herrn B. Richter Andreas Hautz während der Verhandlung gegen ihren Sohn. Der Grund ihres Bedürfnisses, den Saal 22 im Landesgericht für Strafsachen Wien zu verlassen, ist ein Video, das vorgeführt wird. Aufgenommen mit einem Mobiltelefon, zeigt es den Angriff von vier Jugendlichen auf einen 19-Jährigen am Abend des 19. November. Zu sehen und hören ist, wie das Opfer mit Faustschlägen und Tritten traktiert wird, panisch schreit und schließlich wimmernd auf dem Boden liegt. Der Rädelsführer der Angreifer ist der Angeklagte, der sich nun wegen schwerer Körperverletzung und schwerer Nötigung verantworten muss. "Schrecklich, oder?", fragt Hautz am Ende der kurzen Aufnahme den Angeklagten, der darauf wenig erwidern kann.

Erst im vergangenen Sommer war B. wegen versuchter schwerer Körperverletzung, minderschweren Raubs, gefährlicher Drohung und Sachbeschädigung im Grauen Haus zu zwölf Monaten Haft, einer davon unbedingt, verurteilt worden. Die damals ebenso angeordnete Bewährungshilfe sowie das Antiaggressionstraining absolviert der arbeitslose Rumäne, letzteres startete allerdings erst im Dezember, also nach dem nun angeklagten Vorfall.

Angriff bei Bushaltestelle

Das Opfer, ein im Iran geborener jungen Mann, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt ist, will nur in Abwesenheit des Angeklagten einvernommen werden. Er erzählt, wie er damals bei einer Bushaltestelle in Wien-Donaustadt wartete, als der 16-Jährige mit gleich sieben Begleitern auftauchte. "Du hast mich unwissend genannt?", soll der Angeklagte, den das Opfer wegen seiner Markenkleidung "Lacoste" nennt, zu ihm gesagt haben. Noch bevor er antworten konnte, verpasste der Angreifer ihm einen rechten Haken. Schließlich prügelten die acht Jugendlichen auf das Opfer ein, bis eine Passantin die Polizei alarmierte.

"Ich hatte danach Angst, nach Hause zu fahren, da die dort vielleicht auf mich warten", erinnert der 19-Jährige sich. "Ich dachte, ich fahre zu einer Freundin, dort bin ich sicher." War er nicht, offenbar müssen "Lacoste" und drei seiner Komplizen das Fahrtziel geahnt haben, denn sie erwarteten ihn. "Er hat dann ein Messer gezückt und verlangt, dass ich mit ihnen in einen Park komme", schildert das Opfer. "Sie haben mich dann dorthin gezerrt und mir sofort wieder Fäuste gegeben. Und sie haben gesagt, sie bringen meine Mutter und meine Schwester um, wenn ich etwas der Polizei sage."

Die körperlichen Folgen der beiden Überfälle: ein Jochbeinbruch, eine Kieferverletzung, die ambulant operiert werden musste, Prellungen im Gesicht, am Kopf, den Armen und den Beinen, eine Rissquetschwunde an der Lippe sowie eine leichte Gehirnerschütterung. Zwei Monate habe er Schmerzmittel benötigt, erzählt der Zeuge, wochenlang habe er sich nicht mehr aus der Wohnung getraut, ergänzt seine Privatbeteiligtenvertreterin Sonja Scheed. Sie fordert 3000 Euro Schmerzengeld sowie den Ersatz der 14,20 Euro Selbstbehalt für die Operation. B. und sein Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger akzeptieren diese Forderung.

"Warum ist das passiert?"

"Haben Sie irgendeine Erklärung dafür? Warum ist das passiert?", will Richter Hautz vom Zeugen wissen. Der 19-Jährige bietet zwei Theorien. "Ich habe den Jungen schon einmal gesehen", sagt er über den Angeklagten. "Er hat mich gewarnt, dass ich nicht mit einem bedeckten Mädchen in der Öffentlichkeit unterwegs sein darf", schildert er.

Bei der Polizei nannte er noch eine zweite Möglichkeit: Er sei früher "auf dem falschen Weg" gewesen und habe eine Vorstrafe wegen der Verbreitung von IS-Propaganda. Nach dem Urteil habe er sich von der islamistischen Terrororganisation losgesagt und sei "als Abtrünniger" angesehen worden. "Herr B. ist aber orthodoxer Christ?", ist Hautz verwirrt. "Ich glaube, er ist zum Islam konvertiert. Er sagte, er sei ein besserer Moslem als ich", behauptet der Zeuge.

Als nach dessen Abgang der Angeklagte – der übrigens wieder eine Jacke jener Marke trägt, der er seinen Spitznamen verdankt – wieder auf dem Anklagestuhl Platz nimmt, fragt der Richter ihn, ob die Sache mit dem kopftuchtragenden Mädchen stimme. "Ja, ich habe mit ihm geredet", nuschelt der 16-Jährige zum Leidwesen der kompetenten Schriftführerin. "Was um alles in der Welt geht Sie das an?", interessiert Hautz. "Das war meine Ex", erklärt B. darauf. "Ich habe ihm gesagt, dass er aufpassen muss, da es ja auch Sittenwächter und so einen Scheiß gibt", antwortet der Angeklagte, der bestreitet, zum Islam konvertiert zu sein. "Na kommen Sie. Das war kein freundlicher Tipp, er hat das als Drohung aufgefasst. Und es klingt eher so, als ob Sie der Sittenwächter wären!"

Kondome und Islam

Was durch das Video untermauert zu werden scheint: Zu sehen ist, wie das Opfer, während es verprügelt wird, ein Kondom verliert und B. ihm darauf vorwirft, wegen der Gummiware "kein guter Moslem zu sein". "Warum darf denn der Herr keine Kondome dabeihaben?", will der Richter wissen. B. murmelt Unverständliches. "Vielleicht hat er einen vernünftigen und verantwortungsbewussten Zugang zu Sexualität?", mutmaßt Hautz, während der Angeklagte schweigt. Auch die Identitäten der anderen beteiligten Jugendlichen will B. nicht preisgeben.

Der Bewährungshelfer bescheinigt dem 16-Jährigen eine positive Entwicklung, er komme regelmäßig zu den Terminen, sei interessiert und offen und soll Anfang Juli auch eine Lehrstelle bekommen. "Mir fehlen jetzt ein wenig die Worte nach diesem Video", zeigt sich der Bewährungshelfer zwar schockiert, spricht sich aber dennoch gegen einen Widerruf der offenen elf Monate aus der ersten Verurteilung aus.

Verteidiger Arbacher-Stöger argumentiert in seinem Schlussplädoyer, dass er seinem Mandanten glaube, dass kein Messer im Spiel gewesen sei. "Die waren zu acht beziehungsweise zu viert. Für was hätten die ein Messer gebraucht?", sieht er die massive Überzahl als entlastend. Der Verteidiger bittet "das hohe Gericht, Augenmaß walten zu lassen. Eine Haft hat noch niemanden besser gemacht", wünscht er sich eine bedingte Strafe.

"Ich schäme mich!"

Der Angeklagte nutzt seine Möglichkeit für das letzte Wort: "Ich möchte mich wirklich entschuldigen", sagt er zum Richter. "Bei mir brauchen Sie sich nicht entschuldigen. Mir ist nichts passiert", sieht Hautz sich als falscher Adressat der Reue. "Ich schäme mich!", gibt B. noch zu Protokoll.

"Eine furchtbare Geschichte", fasst der Richter den Fall schließlich in seiner Begründung, warum er B. zu 15 Monaten Haft, fünf davon unbedingt, verurteilt, zusammen. "Als ich den Akt bekommen habe, hatte ich vor, Ihnen eine gänzlich unbedingte Strafe zu geben. Da die Therapie aber erst danach begonnen hat und sie laut Bewährungshilfe auf einem guten Weg sind, habe ich mich jetzt anders entschieden. Das Video spricht für sich, da braucht es eigentlich keine Begründung des Urteils, das ist eher die Begründung, warum es nur eine teilbedingte Strafe ist."

Während der Teenager nach kurzem Gespräch mit Verteidiger, Mutter und Bewährungshelfer die Entscheidung akzeptiert, gibt die als Staatsanwältin agierende Richteramtsanwärterin keine Erklärung ab. Das Urteil ist daher noch nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 20.6.2024)