Der niederländische Noch-Premierminister Mark Rutte wird wohl der nächste Nato-Generalsekretär.
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Seit bald zehn Jahren dient Jens Stoltenberg als Generalsekretär der Nato. Hätte der russische Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 nicht einen großen Eroberungskrieg gegen die Ukraine begonnen, wäre der frühere norwegische Premierminister wohl längst in seine Heimat zurückgekehrt: Die Regierung hat ihn als Chef der Notenbank designiert. Aber Stoltenberg durfte nicht von Brüssel nach Oslo übersiedeln. Er war aus Sicht der 32 Regierungen des Bündnisses dies- und jenseits des Atlantiks wegen der Krise mit Russland schlicht unabkömmlich.

Nun soll der Norweger aber "erlöst" werden. Beim Nato-Jubiläumsgipfel zur Gründung vor 75 Jahren Anfang Juli in Washington wird der niederländische Noch-Premierminister Mark Rutte sehr wahrscheinlich zum Nachfolger gewählt. Dieser gilt bereits seit einem Jahr als Favorit für den Posten.

Rutte strebte den Posten auch aktiv an, nachdem seine Regierung im Sommer vergangenen Jahres zerbrochen war und seine rechtsliberale Partei VVD bei vorgezogenen Neuwahlen eine herbe Niederlage erlitten hat. Er war nach fast 14 Jahren an der Spitze der niederländischen Regierung auch amtsmüde.

Favorit für die Nato-Spitze

Nicht zuletzt wegen dieser außerordentlich langen politischen Erfahrung galt der Liberale auch als Favorit für die Nato-Spitze. Sein einziger Gegenkandidat war der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis. Der hätte ihm gegenüber den Vorteil, aus Osteuropa zu stammen, das im Konflikt mit Russland besonders exponiert ist. Ein Nato-Chef aus dieser Region hätte vielen Staaten gefallen.

Am Rande des EU-Gipfels in Brüssel am Montag, bei dem von den Staats- und Regierungschefs über ein großes Personalpaket für EU-Spitzenposten nach den Europawahlen verhandelt wurde, kam es diesbezüglich jedoch zu einer ersten wichtigen Klärung. Ungarn und die Slowakei gaben ihren Widerstand gegen Rutte auf. Die USA und Kanada wie auch die übrigen Nato-Partner hatten sich bereits seit längerem für den Niederländer ausgesprochen.

Es wird daher erwartet, dass Iohannis demnächst seine Kandidatur zurückzieht, sodass die Wahl Ruttes ohne großes Hin und Her beim Gipfel in Washington einhellig über die Bühne geht. Ohne dass darüber groß abgestimmt werden müsste. Diese partnerschaftliche Einheit bei dieser wichtigsten Personalie, das amikale Beilegen von unterschiedlichen Zugängen, hat im Militärbündnis Tradition. Die Nato ist nur dann stark und handlungsfähig, wenn sie mit einer Stimme spricht bzw. wenn Beschlüsse einstimmig fallen.

Fingerspitzengefühl gefragt

Traditionell wird der höchste politische Posten der Allianz, eben der des Generalsekretärs, der im Hauptquartier in Brüssel sitzt, an einen Europäer vergeben. Die USA stellen im Gegenzug den obersten Militärbefehlshaber, einen Vier-Sterne-General, der im militärischen Hauptquartier in Mons an der belgisch-französischen Grenze amtiert.

Der Generalsekretär ist sozusagen der oberste Diplomat und Manager des Bündnisses, der die gemeinsame Politik und die Strategie der Nato-Staaten orchestriert. Das ist, wie man während der konfliktreichen US-Präsidentschaft von Donald Trump zwischen 2017 und Anfang 2021 gesehen hat, ein schwieriger Job. Es braucht viel Fingerspitzengefühl, Erfahrung und soziale Fähigkeiten – neben der politischen Erfahrung.

Das wird Rutte in hohem Maße zugetraut. Er hat bereits als niederländischer Premier bei diversen Treffen mit Trump bewiesen, dass er mit diesem umgehen kann, im Interesse der Europäer. In ihn setzen daher vor allem die europäischen Mitglieder große Erwartung, sollte es im November nach den US-Wahlen zu einem Wechsel im Weißen Haus kommen und Trump erneut Präsident werden.

Gedeckter Tisch für Rutte

Zu den wichtigsten Aufgaben Ruttes an der Nato-Spitze werden zwei Bereiche gehören. Er muss den eingeschlagenen Weg der Unterstützung der Nato für die Ukraine im Krieg gegen Russland fortsetzen. Als Premier der Niederlande gehörte er zu den besonders engagierten Unterstützern Kiews. Als Erster sagte er zum Beispiel die Lieferung von F-16 Kampfjets zu.

Und er muss das beim Nato-Gipfel in Madrid 2022 beschlossene neue strategische Konzept umsetzen. Gute Voraussetzungen dazu hat ihm Stoltenberg bereits erarbeitet. So ist die Finanzierung der Ukrainehilfe durch die EU-Staaten und die USA in einem Gesamtvolumen von inzwischen 150 Milliarden Euro auf Jahre hinaus bereits in Parlamenten beschlossen.

Die Nato-Verteidigungsminister fixierten zuletzt, dass die Koordinierung der Waffenhilfen in einem zu errichtenden Zentrum in Deutschland ablaufen wird, um das ohne Störung auch dann umsetzen zu können, sollte Trump im Winter andere Akzente setzen. Bisher hatte das eine Kontaktgruppe unter US-Vorsitz erledigt, künftig soll das die Nato als Organisation tun.

Voll angelaufen sind auch die strukturellen Reformen zur Erhöhung der Schlagkraft der Nato auf europäischem Boden, insbesondere an der Ostflanke in den osteuropäischen Staaten. Es wird stationierte Militärverbände in allen Ländern an den Grenzen zu Russland, Belarus und der Ukraine geben. Rund 300.000 Nato-Soldaten stehen für einen raschen Einsatz binnen eines Monats bereit, hat die Nato zuletzt gemeldet. Rutte wird als Nato-Generalsekretär also einen gedeckten Tisch vorfinden. Er soll am 1. Oktober den Dienst antreten. (Thomas Mayer, 19.6.2024)