Emmanuel Macrons Reformpolitik kann sich sehen lassen. Doch jetzt hat ihm sein Ego offensichtlich einen üblen Streich gespielt: Im Zorn über seine erste Wahlniederlage hat Le Président gleich Neuwahlen angeordnet. Als würde er sich sagen: Wenn ihr die Rechte Marine Le Pen wollt, dann nehmt sie doch!

Rechts gegen links: Wird Marine Le Pen oder Jean-Luc Mélenchon die Wahl gewinnen?
AFP/JOEL SAGET

Und die französischen Citoyens sind dazu in der Lage. Ihnen geht es wirtschaftlich nicht gut. Dass Le Pen von Wirtschaft nichts versteht, scheint sie paradoxerweise nicht zu stören. Dass Rechtsnationale zur humanistischen "République" passen wie die Faust aufs Auge, auch nicht. Es ist unübersehbar: Frankreich ist reif für Le Pen.

Das heißt nun nicht, dass in Paris der Faschismus Einzug halten wird. Le Pen bremst erstaunlicherweise selbst, sie gibt sich staatstragend und republikanisch. Nach der ersten Überraschung über Macrons Geschenk realisiert sie, dass sie kein Programm und zu wenig Regierungspersonal hat. So schickt sie den moderateren Jungspund Jordan Bardella vor: soll sich der als Premier die Finger verbrennen.

2027 will sie bei der Präsidentschaftswahl dann selber ins Machtzentrum des Elysées-Palasts gelangen – so ihr Plan. Dann würde es für Frankreich und für Europa wirklich gefährlich. An der Regierung hingegen, mit einem übermächtigen Staatschef wie Macron über sich, könnte der 28-jährige Bardella nicht allzu viel verbrechen. Ein psychologischer Schock wäre seine Nominierung allemal, mit schweren Folgen für die Stabilität und den politischen Frieden Frankreichs.

Makel der Linken

Einige setzen als Ausweg auf die linke Volksfront, die in den Umfragen um wenige Prozentpunkte hinter den Lepenisten liegt. Aber sie hat einen schweren Makel: Sie wird von Jean-Luc Mélenchon beherrscht, einem linkspopulistischen Volkstribun trotzkistischer Provenienz. Sein rabiater Stil und sein radikalsozialistisches Wahlprogramm würden Frankreich keine Entspannung bringen. Sie dürften wie die Aussicht auf die Amateurin Le Pen dazu geführt haben, dass der Pariser Börsenindex CAC40 in einer Woche um sechs Prozent eingebrochen ist.

Könnte das doch noch eine Chance für gemäßigte Kräfte sein? Wohl kaum. Macron ist nach sieben Jahren im Amt so unpopulär wie nie. Die Sozialdemokraten, unglückliche Juniorpartner der Mélenchon'schen Volksunion, haben bei der Europawahl zwar gut abgeschnitten. Doch ihr unerfahrener Listenführer Raphaël Glucksmann wurde vom alten Fuchs Mélenchon ausgetrickst und bei der Gründung der Volksfront in die Umkleidekabine geschickt.

Zerrissene Republikaner

Die konservativen Republikaner wiederum sind völlig zerrissen, seitdem ihr Parteichef Éric Ciotti mit den Lepenisten einen Teufelspakt geschlossen hat – mit Absprachen in 70 von 577 Wahlkreisen. Das ist so explosiv, als würde die CDU mit der AfD anbandeln.

So wird Frankreich ab Juli wahrscheinlich von einer radikalen Kraft regiert – sei das Le Pens Sammelbewegung oder Mélenchons Unbeugsame. Bezeichnenderweise haben sie teilweise dasselbe Programm: Das Pensionsalter von 62 Jahren, das Macron mit maximalem Einsatz auf 64 erhöht hat, wollen beide sogar auf 60 Jahre senken. Frankreich, mit 3000 Milliarden Euro hochverschuldet, kann sich das schlicht nicht leisten. Von Paris bis Berlin wird die bange Frage gestellt: Entfernt sich Frankreich, das Land der Aufklärung, von Voltaires erster Tugend, der Vernunft? (Stefan Brändle aus Paris, 20.6.2024)