Schrille Outfits, trashige Musik, politische Statements – dafür ist die Pride-Demonstration nicht nur in Wien bekannt. Dieses Jahr politischer – oder politisch umstrittener – als sonst, denn es fand sich auch ein propalästinensischer Block in der Parade. Auf Plakaten war nicht nur "No Pride in Apartheid" oder "No Pride in Genocide" zu lesen, sondern auch "Palestine is a queer, anticolonial, indigenous feminist struggle" oder "No Pride for some of us without liberation for all of us".

Auf der Regenbogenparade in Wien gab es dieses Jahr auch einen propalästinensischen Block.
Reiner Riedler

Doch so sehen es bei weitem nicht alle, die sich feministisch positionieren oder queere Menschen unterstützen. Der Hamas-Anschlag vom 7. Oktober und der darauffolgende Krieg in Gaza wurden in den vergangenen Monaten in aktivistischen Kreisen extrem hitzig und kontrovers diskutiert, vor allem im deutschsprachigen Raum. Es gab und gibt heftige Diskussionen über richtige, falsche oder zu späte Reaktionen bis hin zum Zerbrechen von Freundschaften und dem Ausschluss bestimmter Personen. Geht es noch um berechtigte Kritik? Wird jemand zu Recht zur Persona non grata? Oder sind auch persönliche Abrechnungen mit bestimmten Menschen und ihren politischen Theorien im Spiel?

Warum "Queers for Palestine"?

Selten war die Sorge vor Fehlern oder zumindest Fehlformulierungen so groß, was auch der Komplexität des Themas geschuldet ist – aber nicht nur. Die einen argumentieren, dass die sexualisierte Gewalt durch die Hamas nicht ernst genommen oder gar verschwiegen wurde. Auf der anderen Seite steht im Zentrum, dass Feminismus gegen die Unterdrückung aller Menschen kämpfen muss – und das schließe die unter dem Gazakrieg leidende palästinensische Bevölkerung ein.

Das sehen auch viele queere Feminist:innen so. Was vielfach auf Unverständnis trifft: Wieso setzen sich lesbische, schwule oder nichtbinäre Menschen für Gaza ein, wenn die dort herrschende Hamas sie doch verfolgen und ihre Rechte mit Füßen treten würde? "Queers for Palestine – like chickens for KFC" ist eine beliebte Verhöhnung der Aktivist:innen. Hier schwingt auch ein Vorwurf mit, der die Debatte so schwierig macht: die Gleichsetzung der palästinensischen Bevölkerung mit der Hamas. Jene, die die Bombardierung des Gazastreifens verurteilen, werden schnell zu Terrorsympathisant:innen erklärt.

"Mein Glaube an Menschenrechte für andere ist nicht davon abhängig, was sie für mich tun würden", argumentiert zum Beispiel der queere jüdische US-Aktivist Matt Bernstein in einem Beitrag auf Instagram. Alle Formen der Unterdrückung seien miteinander verbunden. "Man kann eine davon nicht auf Kosten einer anderen beseitigen. Man kann Homophobie nicht mit einer Bombe beenden", ist Bernstein überzeugt. Mit seinen politischen Posts erreicht er auf Instagram regelmäßig ein Millionenpublikum.

Viele sprechen von einem Bruch, von einer Spaltung innerhalb der feministischen Bewegung bei der Frage des Gazakriegs. Dabei ist das Thema bei weitem nicht das erste, das innerfeministische Debatten auslöst, die größtenteils bis heute andauern: Man denke an Sexarbeit, die Gleichstellung von Transpersonen oder Pornografie. Feministische Einigkeit in allen ideologischen Fragen gab es auch früher nicht.

Warum sich der aktuelle Kurs zum Gazakrieg besonders destruktiv gestaltet, versuchte die Schweizer Soziologin und Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach zu erklären. Es werde um Worte, um Solidarität, um Positionierungen gerungen, schreibt Schutzbach in dem Schweizer Magazin Republik, denn von hier aus "könnten wir kaum mehr tun". Gerade deshalb würden wir uns darüber zerfleischen. Die Ohnmacht bewirke eine Art "Ersatzhandlungsdogmatismus".

Frage nach feministischer Solidarität

Als konkretes Beispiel führt sie die sexualisierte Gewalt der Hamas am 7. Oktober an – UN Women wurde vielfach dafür kritisiert, zu spät und dann zu zaghaft dazu Stellung bezogen zu haben. "Als Feministinnen gehört unsere Solidarität den Opfern dieser geschlechts­spezifischen Gewalt, die wir aufs Äußerste verurteilen müssen", ist Schutzbach überzeugt. "Gewalt gegen Frauen ist ein Verstoß gegen die Menschen­rechte. Feminismus bedeutet, dazu nicht zu schweigen."

Zugleich stellt sie die Frage, wie feministische Solidarität aussehen kann, wenn sowohl der Feminismus wie auch die Gewalt gegen Frauen im Krieg von verschiedenen Seiten instrumentalisiert werden: "Was tun, wenn aufgrund der Gewalt gegen Frauen weitere schreckliche Gewalt legitimiert wird oder wenn mithilfe einer 'feministischen' Argumentation, Frauen schützen zu wollen, Rassismus, Militarisierung und Autoritarismus voran­getrieben werden?", fragt Schutzbach.

Kritik an Judith Butler

Judith Butler ist wohl derzeit die berühmteste feministische Ikone, der im Zuge des Gazakriegs mangelnde Solidarität mit Frauen vorgeworfen wird. Anfang März ging ein Video viral, in dem Butler Belege zu den Behauptungen sexualisierter Gewalt der Hamas fordert. Wenn es diese gebe, "dann verurteilen wir das" – das sei keine Frage. "Aber wir wollen diese Belege sehen", sagte sie – obwohl es diese zu diesem Zeitpunkt sehr wohl gab.

Judith Butler wird mangelnde Solidarität mit israelischen Opfern sexualisierter Gewalt vorgeworfen.
imago/ZUMA Press

Judith Butler reagierte in einem Beitrag in der Wochenzeitung Der Freitag vor allem auf die massive Kritik, dass sie die Gräueltaten der Hamas relativiere und diese als "Widerstandsbewegung" bezeichne. Sie empfinde "Trauer und Empörung" über den Angriff am 7. Oktober und die Toten, doch sie könne nicht "aufhören, darauf zu bestehen, dass ein Genozid an Palästinser:innen verübt wird". Das sei kein Widerspruch, so Butler, und sie bestehe weiter darauf, die Hamas als Widerstandsbewegung oder Teil eines bewaffneten Kampfs bezeichnen zu können, denn nicht alle Formen des "Widerstands" seien legitim. Auf die Kritik, sie würde die sexualisierte Gewalt durch die Hamas ignorieren oder nicht ernst nehmen, geht Butler nur sehr allgemein und kurz ein. Jede Form sexueller Gewalt sei zu verurteilen, schreibt sie, "ob sie nun von der Hamas oder dem israelischen Militär begangen wird".

"Mehr als ein Jahrhundert lang hat der Feminismus darum gekämpft, dass die Stimmen der Frauen gehört werden – und dass ihnen geglaubt wird", schreibt die bekannte Soziologin Eva Illouz kurz darauf, ebenfalls in Der Freitag. Illouz ist empört: Ausgerechnet Judith Butler fordert nun "objektive Belege"? Gerade Butler hätte "Karriere" damit gemacht, Begriffe wie "Objektivität" infrage zu stellen. Jetzt verlange sie plötzlich eine "Mega-Objektivität, einen Mega-Beweis, eine Objektivität jenseits der verfügbaren Rekonstruktionen, Bilder, Videos und forensischen Analysen", schreibt Illouz über Butler, die damit eine "rote Linie" überschritten habe und "für immer disqualifiziert" sei, zu den Feminist:innen gezählt zu werden.

"Wir glauben den Frauen"

Der Autorin und feministischen Friedensaktivistin Samah Salaime zufolge hat es zu lange gedauert, bis UN Women auf die Berichte über sexuelle Gewalt am 7. Oktober reagiert hat. Die Organisation arbeite, wie viele in den Vereinten Nationen, sehr langsam, ihre erste Stellungnahme Mitte Oktober sei zu vage gewesen, argumentierte die Palästinenserin schon im Dezember im +972-Magazine. Zwei Monate später drückte UN Women Besorgnis über "zahlreiche Berichte über geschlechtsspezifische Gräueltaten und sexuelle Gewalt während dieser Angriffe" aus und erklärte, eine Untersuchungskommission zu unterstützen.

"Es ist zwar wichtig, dass eine gründliche Untersuchung durchgeführt wird", schreibt Salaime, "aber wir dürfen nicht vergessen, dass Geschichten über geschlechtsspezifische Verbrechen in Kriegsgebieten im Allgemeinen nur sehr langsam ans Licht kommen". Viele Überlebende würden Jahre brauchen, "wenn nicht sogar ein ganzes Leben, um darüber zu sprechen, was ihnen widerfahren ist", sagt die Palästinenserin. "Allzu oft jedoch bringt das Patriarchat die Wahrheit zum Schweigen, bagatellisiert sie oder leugnet sie, und deshalb ist es wichtig zu sagen: Wir glauben den Frauen."

Gemeinsamer Kampf

"Auf der Grundlage derselben feministischen Prinzipien müssen wir auch den palästinensischen Frauen in Gaza beistehen, die seit dem 7. Oktober unsägliches Leid durch die israelische Armee erleiden", fügt Salaime hinzu und zählt Beispiele auf, etwa die zehntausenden getöteten oder verletzten Frauen, "ihre Kinder zerstückelt und ihre Frühgeburten ohne Sauerstoff". Palästinenserinnen, die in Zelten entbinden, stillen und menstruieren, ohne Zugang zu sauberem Wasser, Hygieneprodukten, Privatsphäre oder sauberer Kleidung.

"Unser Kampf für die Befreiung der Frauen darf vor keiner der beiden Seiten des Gaza-Zauns haltmachen", fordert Salaime weiter. Das Leid der Frauen in Israel und Gaza dürfe kein Wettbewerb sein. "Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn wir gespalten sind; unser Kampf muss gemeinsam weitergehen." (Beate Hausbichler, Noura Maan, 5.7.2024)