Dass sich der Wahlkampf in den USA zu großen Teilen auch um sein Alter dreht, ist US-Präsident Joe Biden ganz sicher nicht recht. Das hat der 81-Jährige unter anderem Anfang Februar klargemacht, als er öffentlich und verärgert auf Behauptungen von Sonderermittler Robert Hur reagierte, er habe in Interviews einen vergesslichen Eindruck gemacht. Seine Wahlkampagne und auch die öffentliche Kommunikation des Weißen Hauses aber haben bisher stets vermieden, das Thema anzusprechen. Zu sehr fürchtet man den Streisand-Effekt, wonach heftiger Widerspruch zu einem bösen Gerücht oder einem Faktum dieses erst recht in der Öffentlichkeit verbreitet. Nun aber hat das Weiße Haus das Thema äußerst offensiv kommentiert.

Sprecherin Karine Jean-Pierre reagiert auf eine Frage zu jüngsten Videos von Präsident Joe Biden
LiveNOW from FOX

Konkret geht es um eine Pressekonferenz, in der Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre zunächst etwas entnervt und dann sehr ausführlich auf Videos eingeht, die in den vergangenen Tagen kursiert waren und die die Republikanische Partei, aber auch zahlreiche Medien verbreitet hatten. Dabei geht es um Aufnahmen, die Biden angeblich "erstarrt" bei einem Konzert gemeinsam mit Ex-Präsident Barack Obama zeigen, um ein Video, in dem Biden inmitten tanzender Menschen bei Vorausfeiern zum Juneteenth-Tag starr herumsteht, und um eines, das ihn zeigt, wie er in angeblicher Umnachtung beim G7-Gipfel zwischen Amtskollegen herumwandert.

Jean-Pierre sprach in dem Zusammenhang von sogenannten Cheapfakes – also Videos, die zwar nicht aufwendig bearbeitet sind, aber zum Beispiel durch ihren Schnitt oder die Wahl des Bildausschnittes einen falschen Kontext erzeugen. Der STANDARD hat sich die Videos, Jean-Pierres Erklärungen und zusätzliches Videomaterial angesehen, um einen Eindruck von den Aufnahmen und den Vorwürfe zu bekommen.

Konzert mit Obama

Biden bei einem Konzert mit Ex-Präsident Barack Obama.
New York Post

Das erste Video, das in der Pressekonferenz zur Sprache kam, ist das zeitlich neueste. Es stammt vom 15. Juni und zeigt ein Spendenevent für Bidens Wahlkampf, das in Kalifornien veranstaltet wurde. Verbreitet hat es neben Accounts der Republikanischen Partei auch die konservative Krawallpostille New York Post, die in Wahlkämpfen meist offen Kandidatinnen und Kandidaten der Republikaner unterstützt. Zu sehen ist nach Angaben der Zeitung, wie der Präsident für zehn Sekunden still stehen bleibt und dann vom ebenfalls anwesenden Obama von der Bühne "eskortiert" wird. Die konservative britische Sun griff zu dem unvorteilhaften Wortspiel, der Präsident habe sich "in Joe Motion" bewegt.

Jean-Pierre bestreitet in ihrer Antwort nicht die Echtheit des Videos, sehr wohl aber wehrt sie sich gegen die späteren Beschreibungen. "Was die Leute sagen, das sie hier sehen" – das stimme nicht. Biden habe bei der Veranstaltung mehrere Fragen von Comedian Jimmy Kimmel beantwortet, sei anschließend gemeinsam mit Obama auf der Bühne gestanden und habe ins Publikum geblickt. Dass Obama ihn von der Bühne "eskortiert" habe, sei eine völlig falsche Darstellung: Die beiden Männer seien nahezu familiär verbunden, Obama habe schlicht deshalb seinen Arm um Biden gelegt, als die beiden die Bühne verließen.

Obama und ein Sprecher Kimmels stellen die Szene ebenfalls anders dar, als sie zunächst geschildert worden war. Kimmels Sprecher sagt, Menschen im Publikum hätten Biden Dinge zugerufen, dieser sei einige Sekunden stehengeblieben, um sich die Rufe anzuhören. Ein Berater Obamas stellte der US-Agentur AP außerdem ein weiteres Video zur Verfügung, das zeigen soll, dass Biden keineswegs wie eingefroren stehengeblieben sei, sondern sich gemeinsam mit Obama langsam von der Bühne bewegt habe. Biden habe dabei auch gewinkt. Wer das Video sieht, wird zu einem ähnlichen Schluss kommen.

Unbestreitbar bleibt allerdings, was auch auf zahllosen anderen Videos von Biden zu sehen ist: Die Bewegungen des Präsidenten wirken, auch wegen seiner bei Untersuchungen diagnostizierten "beträchtlichen Arthritis" und wegen seines Wirbelsäulenrheumas, nicht gerade spritzig, sondern eher langsam. Es ist eine optische Botschaft, die den ohnehin bestehenden Eindruck über Bidens hohes Alter weiter bestärkt.

Juneteenth

Dazu kommt ein weiterer Punkt, der über Biden zwar seit langer Zeit bekannt ist, aber nun immer besser in das angebliche Bild vom alten Mann passt: Biden kann und will nicht tanzen, er vermeidet rhythmische Bewegungen zu Musik, wo es nur geht.

Biden bei Juneteenth-Feiern.
The Telegraph

Das holt ihn nun ein. Ein weitverbreitetes Video zeigt den Präsidenten umgeben von klatschenden und tanzenden Menschen bei Vorausfeierlichkeiten zu Juneteenth – jenes eigentlich am 19. Juni gefeierten Festtages, der an das gesetzlich proklamierte Ende der Sklaverei in den US-Südstaaten nach dem Bürgerkrieg erinnert. Jean-Pierre kommentierte das Video mit den Worten, sie habe bisher nicht gewusst, dass "nicht zu tanzen eine medizinisch relevante Angelegenheit ist". Außerdem verwies sie auf eine volle, also nicht perspektivisch geschnittene Aufnahme des gleichen Videos. Dabei ist zu sehen, dass rund um Biden und die tanzenden Menschen in seiner Nähe tatsächlich mehrere andere Personen relativ still herumstehen.

Das vollständige Video der AP. Der relevante Teil der Aufnahme beginnt etwa bei Minute 20.
Associated Press

Ein von der Agentur AP zur Verfügung gestelltes vollständiges Video der Feierlichkeiten scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Insgesamt wirkt Biden während des mehr als einstündigen Konzertes aufmerksam, er interagiert auch mit vielen um ihn herumsitzenden Gästen. Dass er bei einer anschließenden Rede, wie der britische Telegraph es beschreibt, "nur verschliffen gesprochen" habe, geht aus dem Video nicht in dieser Form hervor.

Wie bei Bidens Konzertauftritt bleibt aber doch auch ein Körnchen schlechten Eindrucks zurück: Bidens gehobenes Alter, das tatsächlich für viele Wählerinnen und Wähler bei ihrer Entscheidung von Relevanz ist, ist auch in den vollen Aufnahmen deutlich festzustellen.

Fallschirmspringer bei G7-Treffen

Damit bleibt jenes der drei Videos, das am offensichtlichsten im falschen Kontext verbreitet wurde: eine Aufnahme vom Treffen der G7-Staaten in Apulien Ende voriger Woche, die den Eindruck geistiger Abwesenheit des Präsidenten erweckt. Zu sehen ist, wie Biden sich während der Landung eines Fallschirmspringers von diesem abwendet und dann beginnt, querfeldein von der Gruppe der anwesenden Staats- und Regierungschefs wegzuspazieren.

Biden bei den G7.
CNN-News18

Das Video, mit dem sich auch die Washington Post in einem Faktencheck umfangreich beschäftigt hat, wirkt doppelt manipulativ – einerseits durch den Bildausschnitt und andererseits durch die Perspektive. In einer hochformatig geschnittenen Version machen die Aufnahmen den Eindruck, Biden würde sich von der Gruppe insgesamt abwenden und anschließend einem leeren Feld den Daumen nach oben zeigen. Dass dem nicht so ist, zeigt bereits eine im TV-Format verfügbare und daher in der Größe ungeschnittene Version des Geschehens: Sie zeigt, dass Biden keineswegs ein leeres Feld grüßt, sondern einen dort gelandeten Fallschirmspringer. Allerdings macht der Präsident auf den Aufnahmen immer noch einen recht langsamen Eindruck, längere Unterhaltungen mit den Amtskolleginnen und Amtskollegen führt er nicht.

Das längere Video von Biden bei den G7.
The Times and The Sunday Times

Dass er allerdings durchaus mit diesen geplaudert hatte, geht erst aus einem rund 14 Minuten langen Video des US-TV-Senders C-Span hervor, das dieser nach dem G7-Treffen ins Internet stellte. Die Washington Post hat in ihrem Faktencheck außerdem ein Video derselben Szene aufgetan, das aus einem anderen Winkel aufgenommen wurde. Bidens Verhalten wirkt darin weit weniger merkwürdig, weil die im Hintergrund gelandeten Fallschirmspringer, die er mit dem hochgestreckten Daumen grüßt, viel deutlicher zu erkennen sind.

Das längere Video des G7-Treffens von C-Span.
C-Span

Bleibt die Frage: Nutzen die Beteuerungen seiner Unterstützer, wonach Biden in seiner Amtsführung keineswegs senil agiere und Opfer einer Rufmordkampagne sei, dem Präsidenten im Wahlkampf? Bisherige Umfrageergebnisse legen nahe, dass das nicht der Fall ist. Ganze 73 Prozent der Wählerinnen und Wähler gaben Anfang April in einer Umfrage an, sie hielten Biden für zu alt, um seine Aufgaben effizient auszuführen. Dass sein Gegner Donald Trump nur drei Jahre jünger ist und in Reden auch immer wieder Dinge durcheinanderbringt, hilft da wenig: Trump wirkt bei seinen Auftritten schlicht flotter und agiler.

Umfragen legen nahe, dass der von Biden verbreitete Eindruck ihm auch konkret schadet. Sie zeigen nämlich immer wieder, dass der Präsident in Bundesstaaten, in denen auch der Senat neu gewählt wird, teilweise dramatisch hinter den demokratischen Senatskandidatinnen und -kandidaten liegt. Dass der Eindruck bereits besteht und von den Republikanern nur noch verstärkt werden muss, ist wohl auch jener fruchtbare Boden, auf dem virale Videos, die Bidens angebliche Senilität demonstrieren sollen, bestens gedeihen. (Manuel Escher, 19.6.2024)