Es war am 22. Oktober 1946 um drei Uhr früh, als Josef Pointner und seine Verlobte durch ein lautes Poltern an ihrer Wohnungstür geweckt wurden. Zu nachtschlafender Stunde machten ihm einige sowjetische Soldaten, ein Offizier und eine Dolmetscherin unmissverständlich klar, dass die Firma, für die er bis dahin gearbeitet hatte, in die Sowjetunion verlegt werde, wie sich Pointer später an den denkwürdigen Tag erinnerte. Der gesamte Hausrat der Wohnung, die in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands lag, werde ebenfalls verladen; Lkws für den Transport standen bereit.

Der Ingenieur, der 1938 in Wien an der Höheren Staats-Gewerbeschule in Elektrotechnik maturiert hatte, und seine spätere Frau waren nicht der Einzigen, für die sich das Leben an diesem 22. Oktober 1946 buchstäblich über Nacht änderte: Mehr als 2500 Spezialisten – darunter etwa 150 Raketenexperten und 360 Radar- und Funkfachleute – wurden an diesem Tag vom Geheimdienst NKWD abgeholt und aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (also der späteren DDR) mit ihren rund 4000 Familienangehörigen in Richtung Osten zwangsumgesiedelt.

Sowjetische Aufholjagd

In der Sowjetunion trugen Pointner und seine Kollegen in den nächsten Jahren nolens volens mit dazu bei, dass die UdSSR den militärtechnischen Rückstand gegenüber den USA bald aufholen konnte. Und mit Sputnik 1, dem ersten Satelliten in der Erdumlaufbahn, sowie der Trägerrakete R-7 ging die Sowjetunion 1957 im Wettrüsten sogar erstmals spektakulär in Führung. Das war dann vor allem sowjetischer Ingenieurskunst zu verdanken.

Gagarin R-7 Rakete
Der Start von Wostok 1, dem ersten bemannten Raumflug, am 12. April 1961. Erste Tests dafür wurden noch mit der Interkontinentalrakete R-7 durchgeführt, die wieder auf der A4 basierten. Die Rakete Wostok war eine eigenständige sowjetische Entwicklung.
IMAGO/SNA

Doch am Beginn des Raketenprogramms der UdSSR standen deutsche und österreichische Experten Pate. Erforscht ist dieses Kapitel relativ wenig – und insbesondere der österreichische Beitrag kaum. Einige neue Einblicke geben nun Recherchen von Christian Klösch, Kustos für Raumfahrt am Technischen Museum Wien: Der Historiker erhielt über den Sohn Pointners Zugang zu dessen Nachlass sowie Kontakte zu den Nachfahren von weiteren österreichischen Kollegen des Raketenfachmanns, die ebenfalls Teil der Operation Ossoawiachim (oder Aktion Ossawakim) waren.

Das ist die gebräuchliche Bezeichnung der gigantischen Nacht-und-Nebel-Aktion, die als die größte Verschleppung von Forschern und Ingenieuren in die Geschichte einging und die trotz der einzigartigen Dimensionen bis heute im Schatten der US-amerikanischen Operation Overcast steht. Mit diesem Programm, das bis in die 1950er-Jahre andauerte, hatten die USA bereits unmittelbar nach Kriegsende mehr als 100 Top-Raketenforscher um Wernher von Braun ebenfalls mehr oder weniger unfreiwillig für die westliche Siegermacht rekrutiert.

Wettlauf um Raketenwissen

Der Wettlauf der Siegermächte um die besten Köpfe der deutschen Rüstungsindustrie hatte freilich lang vor 1945 begonnen. Denn insbesondere in der Raketenforschung und -technik waren die Deutschen dem Rest der Welt weit voraus. Also setzten die US-Amerikaner und Sowjets alles daran, um an diese im norddeutschen Ort Peenemünde tätigen Experten und an Raketen des Typs Aggregat 4 (A4) zu gelangen, die erste ballistische Lenkrakete mit Flüssigkeitstriebwerk, besser bekannt als V2; V für Vergeltungswaffe. (Die V2 dürfte zudem die einzige Waffe gewesen sein, deren Herstellung durch KZ-Insassen und Zwangsarbeiter mehr Opfer forderte als ihr Gebrauch.)

Neben den Raketenspezialisten waren für die Alliierten aber auch jene Forschenden von größtem Interesse, die am deutschen Uranprojekt beteiligt waren, um Nuklearwaffen zu entwickeln. Im Rahmen des Manhattan-Projekts, dem der mehrfach Oscar-gekrönte Film Oppenheimer gewidmet ist, schnappte sich der US-Geheimdienst noch knapp vor Kriegsende zehn Wissenschafter um Werner Heisenberg, um sie danach im Geheimen monatelang abzuhören. Und als die Russen im April 1945 Wien eroberten, galt eine der ersten Operationen dem Radiuminstitut in der Boltzmanngasse, weil man dort ebenfalls Wissen über das Uranprojekt vermutete.

Da die US-Amerikaner bereits 1945 die meisten führenden Raketenexperten aus Peenemünde in ihre Obhut gebracht hatten, mussten die Russen die Technik der A4 aus den erbeuteten Raketen mithilfe verbliebener deutscher Fachleute rekonstruieren. Doch sowjetische Raketentests auf Basis der A4 machten nur langsam Fortschritte, weshalb der sowjetische Staatsrat im Mai 1946 die Operation Ossoawiachim veranlasste.

Fünf exemplarische Experten

Auch wenn die meisten der deportierten Experten Deutsche waren, befanden sich dennoch etliche Österreicher darunter – wie der eingangs erwähnte Josef Pointner. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass einige spätere Pioniere der Luft- und Raumfahrt an den Technischen Hochschulen in Wien und Graz studiert und geforscht hatten wie Ferdinand Brandner, Eugen Sänger oder Helmut (von) Zborowski. Alle drei waren im Übrigen – wie etliche andere ihrer Fachkollegen – lange vor 1938 Parteigänger der Nationalsozialisten. (Sänger und Zborowski wurden nach 1945 weder von den USA noch von der SU rekrutiert: Sie legten in der Nachkriegszeit die Grundsteine für die französische Flugzeug- und Raumfahrindustrie. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.)

Auf Pointners Schicksal in der Sowjetunion und das von vier weiteren österreichischen "Raketensklaven", die im Vergleich zu den anderen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion ein privilegiertes Leben führten, geht Christian Klösch in seinem neuen Text in der aktuellen Nummer der Zeitschrift Zeitgeschichte ein. Insgesamt waren es wohl deutlich mehr als diese fünf österreichischen Spezialisten. Gemeinsam war Josef Pointner, Anton Närr, Johannes Hoch, Josef Eitzenberger und Werner Buschbeck, dass sie auch schon vor 1939 in der (Rüstungs-)Industrie des Deutschen Reichs tätig waren.

Pointner
Josef Pointner als Flugzeugmechaniker der Deutschen Luftwaffe
Privatarchiv Ernest Pointner

Einige von ihnen waren exponierte Nazis; und sowohl in Deutschland wie auch später in der UdSSR wurden sie nicht wirklich als Österreicher wahrgenommen. Nach dem Krieg waren sie in der sowjetischen Besatzungszone tätig, ehe sie verschleppt wurden und in der Sowjetunion zum Teil bedeutende technische Entwicklungsarbeit geleistet haben. So war, wie Klösch herausfand, Johannes Hoch mit Josef Eitzenberger und Werner Buschbeck in den Jahren von 1950 bis 1953 entscheidend an der Entwicklung des Flugabwehrraketensystems S-25 Berkut beteiligt. Eitzenberger leistete zudem wichtige Beiträge zur Lenkung von Sputnik.

Kapustin Yar
Geleitet wurde das Team der zwangsrekrutierten Raketenforscher vom Deutschen Helmut Göttrup. Der einzige Österreicher hier im Bild ist Johannes Hoch. Das Foto wurde am Testgelände Kapustin Yar im Oktober 1947 aufgenommen.
Privatarchiv Werner Hoch

Bis auf Johannes Hoch, der 1955 in Moskau starb, kehrten alle anderen Raketenforscher im Dienste Stalins im Laufe der 1950er-Jahre zurück und setzten ihre Karrieren in der deutschen Industrie fort. Nur Pointner wechselte in die Versicherungsbranche. Die letzten Rückkehrer waren 1958 Buschbeck und Eitzenberger, der lange vor 1938 sowohl Mitglied der Burschenschaft Olympia, der NSDAP wie auch der SS gewesen war. Eitzenberger wurde wenig später – nach monatelanger Überprüfung durch die CIA – von den US-Amerikanern angeheuert, um in Frankfurt am Main ein großes Team zu leiten, das etwa an einem Verschlüsselungssystem für die Nato arbeitete.

Ein Raketenforscher als Spion?

Seine weitere Geschichte ist fast filmreif, wie Klösch rekonstruiert: 1967 geriet er wegen seiner vielen Reisen nach Wien unter Spionageverdacht. Hier habe er laut Bundesnachrichtendienst insgesamt 63-mal seine Geliebte, die Übersetzerin und mutmaßliche KGB-Mitarbeiterin Anna Nikolajewna Silberstein getroffen. 1968 galt die Causa für den BRD-Verfassungsschutz als "gravierendster Fall eines spionierenden Wissenschafters in der Bundesrepublik" nach 1945. Man vermutete, dass er bereits in der UdSSR zum Spion ausgebildet worden war, und verhaftete ihn.

Der gegen ihn angestrengte Prozess scheiterte 1970 wegen krankheitsbedingter Verhandlungsunfähigkeit. Nach seinem Tod 1978 benannte die Gemeinde Leobersdorf eine Straße nach dem österreichischen Raketenfachmann, der sowohl für die Nazis, die US-Amerikaner und – vermutlich am nachhaltigsten – für die Russen gearbeitet hatte. (Klaus Taschwer, 23.6.2024)

Anm. der Red.: Die Bildunterschrift zu Wostok wurde korrigiert (10:30)