Pilgerer auf dem Jakobsweg
Der Wiener Teil des Jakobswegs ist deutlich urbaner als andere Abschnitte der berühmten Pilgerstrecke.
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Die Sonne brennt erbarmungslos herab, die Kehle ist trocken, die Beine schmerzen. Die Füße sind übersäht mit Blasen, Haut und Kleidung bedeckt mit einem Mix aus Schweiß und Staub. Das klingt nach keiner erstrebenswerten Situation – und doch ist Pilgern eine Tradition, die sich beharrlich hält und sich zuletzt auch in Österreich zu einem regelrechten Trend entwickelt hat.

Derzeit gibt es insgesamt 28.000 Kilometer Pilgerwege in Österreich, wie Tourismusseelsorger Roland Stadler Ende April im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Kathpress erklärte: Das sind 4000 Kilometer mehr als fünf Jahre zuvor. Etliche Pilgerevents gibt es in diesem Jahr, die meist von den lokalen Diözesen organisiert werden.

Pilgern in Wien

Besonders während der Corona-Pandemie soll Pilgern an Beliebtheit gewonnen haben, vor allem in Tourismusregionen wurde ausgebaut. Allerdings muss man erstens nicht religiös sein, um dem langen Marsch etwas abgewinnen zu können, denn immerhin ist Pilgern auch nur eine spezielle Form des Weitwanderns und bietet somit eine sportliche Herausforderung. Zweitens müssen Wienerinnen und Wiener nicht in die Ferne schweifen. Denn ein Teil des Jakobswegs, der berühmtesten Pilgerroute Europas, verläuft quer durch die Bundeshauptstadt.

Offiziell ist der Jakobsweg Wien in vier Etappen unterteilt und kommt laut Website auf eine Gesamtlänge von 35,5 Kilometer. Wer die Challenge aber in komprimierter Form durchlaufen will, der geht die gesamte Strecke an einem Tag: Ich habe während eines solchen Experiments mit meiner Sportuhr eine Strecke von 40,32 Kilometern und rund 300 Meter Anstieg gemessen.

Meine Wanderung beginnt um 9.20 Uhr am Bahnhof von Schwechat, um 18.25 Uhr endet sie an der Jakobskirche in Purkersdorf. Wer also zügig geht – laut Sportuhr lag meine durchschnittliche Herzfrequenz bei rund 130 bpm –, der kann innerhalb von neun Stunden einmal quer durch Wien wandern. Angenehmer Nebeneffekt in Zeiten der Inflation: Gehen ist gratis, Pilgern gilt somit als günstiges Hobby, in diesem Fall ist man einen Tag ohne größere Ausgaben beschäftigt.

Wallfahrt nach Purkersdorf

Das gilt auch für die Anreise: Während für die finale Etappe des Jakobswegs in Spanien ein teures Flugticket gekauft werden muss, ist eine Zugfahrt nach Schwechat mit einer Jahreskarte der Wiener Linien abgedeckt. Dort angekommen, ist es für Ortsunkundige zunächst schwer, den Einstieg in die eigentliche Pilgerroute zu finden – und so ertappe ich mich gerade am Anfang der Route dabei, trotz geplanten Fokus auf Sport und digitalen Detox immer wieder auf die Maps-App des Smartphones zu glotzen.

Schwechat
In Schwechat ist es noch vergleichsweise ruhig.
Stefan Mey

Sind die Kirche von Schwechat und der gleichnamige Fluss aber einmal gefunden, so sind es zunächst einmal 12,5 Kilometer bis nach Kaisermühlen an der Donau. Das Landschaftsbild ist hier äußerst abwechslungsreich: Während man am ruhigen, begrünten Ufer des Flusses Schwechat noch einigen Einheimischen beim Morgensport oder Gassigehen begegnet, vermitteln die darauffolgenden Getreidesilos, der Hafen Albern und das Kraftwerk Freudenau eher ein Gefühl von Industrieromantik. Die Donauinsel hingegen fungiert als das, was in Bergsteigerkreisen als "Wanderautobahn" bezeichnet wird: Kommt man zuvor nur schwer voran und sucht öfters nach dem Weg, so geht es hier zügig geradeaus.

Hafen Albern
Der Hafen Albern bietet seine eigenen Highlights.
Stefan Mey

Ab Kaisermühlen beginnt der urbane Teil der Wanderung: Spuren von Ruhe und Besinnlichkeit sucht man auf der stark befahrenen Lassallestraße ebenso vergeblich wie auf der von Baustellen durchsetzten Praterstraße. Und als nach 5,1 Kilometern mit dem Stephansdom das Finale der zweiten Etappe erreicht ist, machen sich zwar erste Erschöpfungserscheinungen bemerkbar – von Erleuchtung fehlt jedoch jede Spur, während man sich auf der Rotenturmstraße mit anderen Menschen drängt oder Touristen dabei beobachtet, wie sie im Stephansdom sitzend die Häupter andächtig über ihre Smartphones neigen, um Restaurant-Rezensionen zu lesen.

Immerhin: Sowohl in der Inneren Stadt als auch an einem weiteren Ort der Besinnlichkeit, der Mariahilfer Straße, lässt sich gut zur Mittagszeit einkehren – auch wenn das nur heißt, sich eine Pizzaschnitte auf die Hand zu nehmen. Und so führt die dritte Etappe über rund sechs Kilometer bis zum Schloss Schönbrunn.

Wienfluss 
Wanderautobahn statt Hietzinger Ampeln: Der betonierte Weg neben dem Wienfluss.
Stefan Mey

Hier beginnt die letzte, offiziell 12,2 Kilometer lange Etappe. Der ausgeschilderte Weg führt durch Hietzing. Wer aber schneller vorankommen möchte, steigt bei der Kennedybrücke zum Wienfluss hinab und geht diesen sowie den Mauerbach – mit einem kurzen Abstecher bei einem Kriegerdenkmal – entlang, bis er am Ziel ankommt: der Jakobskirche in Purkersdorf.

Reflexion und Alternativen

Dass nach rund 40 Kilometern jeder der letzten Schritte schmerzt, versteht sich von selbst. Und so lässt sich der Pilgerer am Zielort zunächst erschöpft auf die Kirchbank fallen. Wartet, bis der Puls unter 100 bpm sinkt. Starrt mit leerem Blick vor sich hin und fragt sich: Warum habe ich mir das angetan?

Jakobskirche in Purkersdorf
Moment der Ruhe nach einem sportlichen Tag: Das Innere der Jakobskirche in Purkersdorf.
Stefan Mey

Denn schön ist der Jakobsweg Wien nicht, Entspannung und Erleuchtung stellen sich auf den vielbefahrenen Straßen nicht ein, und es gibt interessante Alternativen: Wien verfügt über schöne Stadtwanderwege, auf dem gut ausgeschilderten "Rundumadum"-Weg lässt sich die Hauptstadt auf rund 120 Kilometern gut umrunden. Und wenn es unbedingt Pilgern sein muss, dann beginnt in Rodaun der ebenfalls 120 Kilometer lange Wiener Wallfahrerweg nach Mariazell. Insgesamt führen 2667 Kilometer Jakobswege durch Österreich, die auch durchs Römerland Carnuntum bis Schwechat (62 Kilometer) sowie 74 Kilometer von Purkersdorf weiter bis zum Stift Göttweig führen.

All das ist besinnlicher als die Lassallestraße. Aber andererseits: Wer kann schon von sich sagen, Wien einmal komplett zu Fuß durchquert zu haben? (Stefan Mey, 19.6.2024)