Macron bei einer Pressekonferenz gestikulierend
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach der Europawahl Neuwahlen in Frankreich ausgerufen. Geht diese Taktik auf?
Foto: Imago / Fred Dugit

Bei der Europawahl haben rechtsextreme populistische Parteien außergewöhnlich gut abgeschnitten: In Frankreich, Italien und drei weiteren Ländern konnten sie die höchste Zahl von Stimmen für sich verbuchen. Mit einem Viertel der Sitze im Europäischen Parlament liegen sie jetzt insgesamt nur knapp hinter der gemäßigten Rechten. Für Europa sind die Nationalisten eine massive Bedrohung. Häufig sympathisieren diese Parteien mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin oder lehnen Klimapolitik, Migranten und EU-Institutionen entschieden ab.

Den etablierten europafreundlichen Parteien bleiben drei Möglichkeiten, auf diese Entwicklung zu reagieren: Nachlässigkeit, Anpassung oder Gegenangriff.

Gespaltene Rechte

Beginnen wir mit der Option, so weiterzumachen wie bisher. Viele Europäerinnen und Europäer glauben (fälschlicherweise), Europawahlen seien bedeutungslos. Die Wahlbeteiligung ist viel geringer als bei nationalen Wahlen, und viele Menschen geben Proteststimmen ab, die sich häufig gegen die Regierungsparteien richten. Trotzdem haben die proeuropäischen Parteien im nächsten Parlament immer noch die Mehrheit. Die gemäßigt rechte Europäische Volkspartei (EVP) unter der Leitung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sogar Sitze hinzugewonnen. Außerdem sind die extrem rechten Parteien zutiefst gespalten. Sie teilen sich in zwei rivalisierende parlamentarische Gruppen auf, und einige gehören sogar keiner von beiden an. Sie sind sich uneinig über den Ukrainekrieg, die Wirtschaftspolitik, LGBTQI-Rechte, und – am wichtigsten – ob sie innerhalb des EU-Systems oder gegen das System arbeiten sollen. Durch diese Spaltung wird ihr Einfluss unweigerlich verringert.

"Die politische Mitte hat nur gehalten, weil sie weiter definiert ist als je zuvor."

Aber trotzdem ist Nachlässigkeit gefährlich. Die politische Mitte hat nur gehalten, weil sie weiter definiert ist als je zuvor: Sie umfasst nicht nur die Fraktion der EVP und der Sozialdemokraten (S&D), sondern auch die klassischen und sozialen Liberalen von Renew Europe und die Grünen. Von der Leyen scheint im Parlament genug Stimmen auf sich vereinen zu können, um als Kommissionspräsidentin wiedergewählt zu werden – aber nur knapp. Dies lässt kaum auf eine starke und stabile EU-freundliche Mitte schließen.

Noch beunruhigender ist, dass sich in wichtigen Mitgliedsstaaten die politische Landschaft durch die Wahl verändert hat. Die extremistische AfD in Deutschland wurde zweitstärkste Partei – noch vor der SPD von Kanzler Olaf Scholz. Und in Frankreich hat der Rassemblement National (RN) 32 Prozent der Stimmen gewonnen, mehr als doppelt so viel wie die zentristische Partei des Präsidenten Emmanuel Macron – eine krachende Niederlage. Die beiden mächtigsten europäischen Staatschefs sind massiv geschwächt.

Rechte integrieren

Die zweite Möglichkeit ist, sich an die extreme Rechte anzupassen, was auf nationaler Ebene häufig stattfindet: Insbesondere in der Migrationspolitik übernehmen viele Mitte-rechts-Parteien (und auch einige gemäßigte Linke) die Sprache und die Politik der Extremisten. In einigen Mitgliedsstaaten regieren sie sogar gemeinsam.

Auf EU-Ebene argumentieren manche Pragmatiker, einige rechtsextreme Parteien könnten in den konservativen Mainstream integriert werden. Betrachten wir nur, wie von der Leyen die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni umwirbt, die sich trotz der neofaschistischen Wurzeln ihrer Partei Fratelli d'Italia als traditionelle Konservative präsentiert – und sich dadurch beliebt gemacht hat, dass sie mit den EU-Institutionen zusammenarbeitet anstatt gegen sie.

Meloni (links), von der Leyen (rechts), im Hintergrund grüne Landschaft mit Bäumen
Premierministerin Giorgia Meloni und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim G7-Gipfel dieser Tage in Italien. Gelingt die Zusammenarbeit auf EU-Ebene?
Foto: Reuters / Yara Nardi

Die Gefahr ist aber, dass nicht die extremen Rechten von den gemäßigten Rechten vereinnahmt werden, sondern umgekehrt. Denken wir daran, wie sich die EU-Asylpolitik von der Willkommenskultur der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel des Jahres 2015 zur überwiegenden Flüchtlingsfeindlichkeit der heutigen Zeit wandeln konnte.

Der Versuch, die extreme Rechte zu vereinnahmen, kann auch spektakulär nach hinten losgehen: Die Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gehörte einmal der EVP an. Jetzt ist Orbán ein Putin-freundlicher Abtrünniger, der Rechtsstaatlichkeit und demokratische Errungenschaften mit Füßen tritt. Und während Meloni manchen Zentristen sympathisch sein mag, scheint niemand mit dem RN zusammenarbeiten zu wollen – geschweige denn mit der AfD.

Macrons Weg

Dies führt uns zur dritten Möglichkeit: die extreme Rechte zu bekämpfen. Macron hat sich für diesen Weg entschieden, indem er vorgezogene Neuwahlen ausrief. Ein riskantes Spiel. Es ist denkbar, dass Frankreich über eine Stichwahl einen rechtsextremen Premierminister wählt. Durch die Auflösung der Nationalversammlung hat Macron jedoch die Initiative wiedererlangt und sich zwei mögliche Wege zum Sieg über die extreme Rechte geschaffen:

Eine Möglichkeit ist, dass die Bedrohung durch die Rechtsextremisten im Wahlkampf für die Wählerinnen und Wähler ein großes Thema werden könnte, was zu einer parlamentarischen Mehrheit aus linken und rechten Parteien beitragen könnte, die gemeinsam versuchen, den RN in Schach zu halten. Da Macron aber sehr unbeliebt ist, erscheint dies als recht unwahrscheinlich.

Plausibler ist aber die Annahme, dass Macron darauf setzen könnte, dass die Rechtsextremen scheitern. Am besten funktionieren Populisten meist, wenn sie die Außenseiterrolle übernehmen, die etablierten Parteien herausfordern können und keine Verantwortung tragen müssen.

Le Pen bei einem Wahlkampftermin umringt von Menschen
Marine Le Pen führt den Rassemblement National an. Nach den Europawahlen ist die Partei wieder im Wahlkampf.
Foto: AFP / Denis Charlet

Sollte der RN die Mehrheit erlangen oder eine größere rechte Koalition anführen, würde die Partei sich mit der harten Regierungsverantwortung vermutlich schwertun. Mäßigt sie ihre Hardliner-Politik, könnte dies ihr Anti-Establishment-Profil schwächen. Bleibt sie hingegen radikal, könnte sie das Land in eine Krise stürzen. Beides könnte die Beliebtheit ihrer Parteichefin Marine Le Pen untergraben – und dies bereits vor einer wahrscheinlichen Präsidentschaftskampagne. Besser ein rechtsextremer Premier 2024 als eine rechtsextreme Staatspräsidentin 2027. (Philippe Legrain, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 18.6.2024)