Fatma Akay-Türker, gekleidet in einen cremefarbenen Hosenanzug, darunter eine weinrote Rüschenbluse, steht im Freien mit unbedeckten, lockigen Haaren und lächelt.
Fatma Akay-Türker begrüßt den Neos-Plan für ein Schulfach Demokratie: Dieser Problemkomplex sei eine Tatsache, die niemand, der mit Schule zu tun habe, übersehen könne.
Heribert Corn

Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) hat laut einem Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts die ehemalige Islamlehrerin Zeliha Ç. diskriminiert und soll ihr 15.000 Euro Schadenersatz zahlen. Das Gericht sah eine "unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion". Die Frau hatte das Kopftuch abgelegt und ab 2017 unbedeckt unterrichtet. Das erstinstanzliche Urteil ist nicht rechtskräftig, die IGGÖ will berufen. Fatma Akay-Türker war damals nicht nur selbst Islamlehrerin, sondern auch IGGÖ-Frauenbeauftragte – und trug auch noch Kopftuch.

STANDARD: Was sagen Sie zu diesem Urteil? Welche Bedeutung hat es grundsätzlich?

Akay-Türker: Auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, zeigt es doch, dass die rigide patriarchal-traditionalistische Linie der IGGÖ mit den Spielregeln einer modernen Demokratie nicht vereinbar ist. Das Wichtige an diesem Urteil ist seine Signalwirkung. Die IGGÖ verliert nun auch nach außen hin jene Legitimität, die sie nach innen, also unter Muslim:innen, längst verloren hat. Die IGGÖ steht damit am Scheideweg. Wenn sie so weitermacht wie bisher, wird sie ihre Stellung als legitime Ansprechpartnerin für den österreichischen Staat verlieren. Eine Vertretung, die von einer überwiegenden Mehrheit unter den Muslim:innen als legitim anerkannt wird, ist sie schon seit vielen Jahren nicht mehr.

STANDARD: Sie waren von 2018 bis 2020 als Frauensprecherin der IGGÖ die einzige Frau im Obersten Rat. Sie kennen also die Position der IGGÖ zum Thema Kopftuch für Islamlehrerinnen von innen. Wie lautet sie?

Akay-Türker: Die IGGÖ versucht, sich nach außen hin als sehr demokratisch zu positionieren. Nach innen beharrt sie allerdings darauf, das Tragen des Kopftuchs sei Pflicht. Die IGGÖ sollte diesbezüglich einmal ihre "Glaubenslehre" offenlegen. Sie spricht dauernd von "der islamischen Glaubenslehre", als gäbe es nur eine einzige. Aber anders als zum Beispiel im Katholizismus gibt es im Islam keinen Papst und auch keine sonstige oberste Autorität, die sich anmaßen darf, die einzig wahre Lehre zu verkünden. Seit Beginn der islamischen Geschichte gibt es mehrere Richtungen, Strömungen, Rechtsschulen und Lesarten. Wenn die IGGÖ behauptet, "offizielle Vertreterin aller Muslime" zu sein, dann sollte sie auch andere Meinungen akzeptieren und die Diskussion unter den verschiedenen Richtungen fördern. Nach meiner Auffassung ist der Islam eine Religion der Selbstverantwortung, in der jede:r selbst entscheiden kann und soll, wie er oder sie den Glauben leben oder praktizieren will.

STANDARD: Nachdem die jetzige Klägerin das Kopftuch abgelegt hatte, wurde ihr Ansuchen auf Übernahme als Landeslehrerin für die Wiener Bildungsdirektion von der IGGÖ nicht weitergeleitet. Das Gericht urteilte: "Das Motiv dafür war, dass die Klägerin nach Ansicht der Fachinspektoren das nach der islamischen Glaubenslehre zur Kopfbedeckung bei einer Frau gebotene Kopftuch nicht, nicht ständig oder nicht ausreichend getragen hat." Sie waren damals selbst Islamlehrerin in mehreren Gymnasien und haben auch noch Kopftuch getragen. Haben Sie ähnliche Wahrnehmungen gemacht?

Akay-Türker: Es gibt bislang nur eine einzige Islamlehrerin ohne Kopftuch. Sie kann in dieser Position arbeiten, weil sie keine von der Glaubensgemeinschaft bestellte Vertragslehrerin mehr ist, sondern Landeslehrerin. Das Kopftuch hat sie erst nach ihrer Bestellung durch das Land abgelegt. Hätte sie das vorher getan, hätte sie ihren Job verloren. Jetzt kann die IGGÖ sie nicht mehr so unter Druck setzen, weil sie keinen Einfluss auf Landeslehrer:innen hat. Allerdings nutzt die IGGÖ diesen einen Fall, wenn es nach außen hin opportun erscheint, und behauptet: "Wir haben auch Lehrerinnen ohne Kopftuch."

STANDARD: War Ihnen damals bewusst, dass Sie den Job verlieren würden, wenn Sie es ablegen?

Akay-Türker: Natürlich war mir das bewusst. Aus Liebe zu meinen Schülerinnen und Schülern und wegen meiner Leidenschaft für meinen Beruf als Lehrerin hätte ich gar nicht anders gekonnt, als ein Kopftuch zu tragen. Allerdings muss ich dazusagen, dass ich das Kopftuch damals auch tragen wollte. Es war für mich ein wichtiges Zeichen, genauso wie es heute für mich ein wichtiges Zeichen ist, dass ich das Kopftuch abgelegt habe. Jede Muslimin sollte frei für sich entscheiden, was sie mit dem Kopftuch verbindet und zum Ausdruck bringen möchte. Das ist Privatsache.

STANDARD: Weiß jede Muslimin, die als Religionslehrerin für die IGGÖ arbeiten will, dass sie auf jeden Fall Kopftuch tragen muss?

Akay-Türker: Die IGGÖ macht nach innen kein Hehl daraus, dass sie eine traditionalistische Linie verfolgt. Eine Frau ohne Kopftuch wird in der IGGÖ jedenfalls als schlechte Muslimin betrachtet. Diesem Traditionalismus hat in der IGGÖ bis vor wenigen Jahren niemand widersprochen. Bis vor wenigen Jahren wären Frauen ohne Kopftuch nicht einmal auf die Idee gekommen, dass sie als Islamlehrerin arbeiten könnten. Auch heute noch kämpfen viele Frauen, die kein Kopftuch tragen, mit den Schuldgefühlen, die ihnen eingeredet werden. Das ändert sich nur langsam. Seitdem Frauen auch islamische Theologie und Pädagogik studieren und sich eingehend aus muslimischer Sicht mit der Kopftuchdebatte beschäftigen, verbreitet sich das Wissen, dass es auch Auslegungen des Koran gibt, die gut begründet sind und von der traditionalistischen Linie abweichen. Langsam, aber sicher entwickelt sich eine feministische Interpretation des Koran, die den muslimischen Frauen einen bedeutenden Emanzipationsschub bringen wird.

STANDARD: Hat die IGGÖ oder haben Fachinspektoren Druck auf Islamlehrerinnen ausgeübt, dass sie das Kopftuch tragen?

Akay-Türker: Bei mir war das nicht der Fall, da ich es damals freiwillig getragen habe. Ich kenne jedoch Islamlehrerinnen, die sowohl Druck als auch allerlei Schwierigkeiten erleben, weil sie entweder kein Kopftuch tragen wollen oder ihre Meinungen offen sagen.

STANDARD: Sie sind 2020 aus Protest gegen das in der IGGÖ vorherrschende Frauenbild aus dem Obersten Rat zurückgetreten, weil die IGGÖ "die Abwertung der Frauen institutionalisiert" habe und "Stillstand bewahren" wolle. Vier Jahre später: Hat sich seither etwas an der Position der IGGÖ gegenüber Frauen verändert?

Akay-Türker: Nein, leider nicht. Im Gegenteil. Heute achtet die IGGÖ noch mehr darauf, dass keinerlei Kritik seitens der Frauen laut wird und schon gar nicht nach außen dringt. Das bewerkstelligt die IGGÖ, indem sie die Frauen, die sie in Repräsentationsfunktionen aufsteigen lässt, sehr genau auswählt. Die IGGÖ sucht für diese Positionen Frauen, die zu den Verhältnissen schweigen, nicht von den traditionalistischen Normen abweichen, sich den Männern völlig unterordnen und vollen Gehorsam leisten. Daher kommt der Widerstand gegen die patriarchalen Strukturen in der IGGÖ heute nicht mehr von den Vertreterinnen der Frauen, aber er kommt umso stärker von einzelnen Religionslehrerinnen, über die die IGGÖ zunehmend die Kontrolle verliert.

STANDARD: Sie haben 2020 mit Ihrem Rücktritt als Frauensprecherin auch Ihren Job als Islamlehrerin, den Sie neun Jahre lang in 17 Gymnasien ausgeübt hatten, aufgegeben. Im Interview mit dem STANDARD sagten Sie dazu: "Wenn ich weiterhin als Religionslehrerin tätig bleibe, darf ich nicht in Freiheit reden, die Verhältnisse nicht hinterfragen. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen leiden darunter, dass ihre kritischen Haltungen keine Anerkennung finden. Ich wollte nicht Teil dieser schweigenden Mehrheit bleiben." Gibt es diese schweigende Mehrheit noch immer?

Akay-Türker: Diese schweigende Mehrheit wird immer größer. Aber was noch wichtiger ist: Wie die Klage der Kollegin beim Arbeits- und Sozialgericht zeigt, ist die Zeit des Schweigens vorbei. Dieser Prozess wird Schule machen.

STANDARD: Zuletzt sorgten aktuelle Zahlen für Aufregung: An den öffentlichen Wiener Volksschulen beträgt der Anteil muslimischer Schülerinnen und Schüler mittlerweile 35 Prozent. Das ist die größte Gruppe vor Kindern ohne religiöses Bekenntnis (26 Prozent). Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) sprach sich für ein Pflichtfach "Leben in einer Demokratie" aus, um "problematischen Werthaltungen aktiv entgegenzuwirken". Zumal "religiöse Konflikte" vor allem in Mittelschulen zunehmen würden. Auch würden vermehrt teils abwertende Haltungen – wie Antisemitismus, Skepsis gegenüber der LGBTIQ-Community sowie eine Ablehnung der Gleichstellung zwischen Mann und Frau – zutage treten. Spiegelt das Ihre Erfahrungen mit der IGGÖ und Ihre Kritik daran wider?

Akay-Türker: Ich stimme dem Herrn Vizebürgermeister vollkommen zu und begrüße seinen Vorschlag. Das, was er sagt, entspricht nicht nur meiner Erfahrung. Dieser Problemkomplex ist eine Tatsache, die kein Mensch, der heute etwas mit dem Schulbetrieb zu tun hat, übersehen kann.

STANDARD: Was halten Sie von einem Fach "Demokratie" oder verpflichtendem Ethikunterricht für alle und Religion nur noch als Freifach? Zumal, so berichtet Profil, laut einer Anfragebeantwortung Wiederkehrs an die ÖVP 37,8 Prozent der 42.499 muslimischen Pflichtschulkinder derzeit vom Islamunterricht abgemeldet sind.

Akay-Türker: Ich bin jedenfalls für Reformen in diesem Bereich. Allerdings warne ich davor, Demokratie und Ethik dem Islam und einem Islamunterricht traditionalistischer Prägung gegenüberzustellen. Wir stehen vor der Herausforderung, die muslimischen Schüler:innen wirklich zu erreichen und sie auch angesichts der ihnen seitens der Mehrheitsgesellschaft entgegenschlagenden Islamfeindlichkeit vor einer Radikalisierung zu bewahren. Das können wir nur, indem wir ihren Glauben an einen Islam fördern, dessen ethische Grundsätze nicht mit einem patriarchalen Traditionalismus zusammenpassen, sondern mit den Menschenrechten, mit Emanzipation und Demokratie. Umso wichtiger ist es, dass auch die staatlichen Verantwortungsträger:innen erkennen, wie weit sich die IGGÖ in den letzten Jahren von diesen demokratischen Werten entfernt hat. Die Monopolstellung der IGGÖ im Bereich des Religionsunterrichts hat allein der österreichische Staat zu verantworten. Dass 37,8 Prozent der muslimischen Schüler:innen – Tendenz steigend – einen von der Linie der IGGÖ geprägten Religionsunterricht ablehnen, sollte den politisch Verantwortlichen zu denken geben. (Lisa Nimmervoll, 18.6.2024)