Lange als radikaler Außenseiter gemieden, weil er Monarchie und Föderalstaat abschaffen wollte, erhielt Bart de Wever (re.) von König Philippe den Auftrag, eine Regierungsmehrheit in Belgien zu sondieren.
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In Belgien hat nach Parlamentswahlen auf nationaler wie auf regionaler Ebene, die am vergangenen Sonntag gleichzeitig mit den Europawahlen stattgefunden haben, das Ringen um die Bildung neuer Regierungen begonnen. Der liberale Premierminister Alexander de Croo hat nach einer herben Niederlage seiner Partei im flämischen Teil des Landes (nur noch 8,3 Prozent der Stimmen) seinen Rücktritt erklärt. Er bleibt zwar noch Übergangspremierminister, bis sich ein neues Kabinett bildet. Aber seine Regierung, eine "Vivaldi"-Koalition aus Liberalen, Christ-, Sozialdemokraten und Grünen ("Vier Jahreszeiten"), ist Geschichte.

Insbesondere die Grünen haben in Flandern, der Wallonie und in der Hauptstadt Brüssel verloren, die SP in der wallonischen Region. Es kam am Sonntag zu einem Rechtsruck. Eindeutiger Sieger war wie schon vor fünf Jahren die Neu-Flämische Allianz (N-VA) im Norden des Landes unter Parteichef Bart de Wever, dem Bürgermeister von Antwerpen. Er wollte seit langem die Monarchie auflösen und Flandern von der Wallonie unabhängig machen, Belgien in der EU "auflösen", wie er 2019 erklärt hatte.

Komplexes System

Davon ist heute keine Rede mehr. Denn nun gilt de Wever, dem von den anderen Parteien bisher der Zugang zur Macht verwehrt worden war, als Favorit für den Posten des Premierministers. König Philippe hat ihn am Mittwoch als Wahlsieger mit der Aufgabe betraut, eine neue Regierungskoalition zu sondieren. Einfach wird das nicht, denn in Flandern hat neben der N-VA der extrem rechte Vlaams Belang erneut dazugewonnen und Platz zwei erreicht. De Wever schloss eine Kooperation mit rechts außen jedoch aus.

Da das links-grüne Lager stark geschwächt ist, die Liberalen im Süden in der Wallonie gut abschnitten und auch die Christdemokraten sich halten konnten, gehen Beobachter davon aus, dass die Bildung einer Mitte-rechts-Regierung auf nationaler Ebene die wahrscheinlichste Variante ist. Ob das auch schnell gelingt, wie es sich der König vom N-VA-Chef wünschte, ist dennoch ungewiss.

Das politische System in Belgien ist sehr komplex. Es gibt nicht nur drei mit großer Autonomie ausgestattete Regionen, die sehr unterschiedlich ticken, sondern auch drei Sprachgruppen. Im nationalen Parlament teilen sich zwölf Parteien 150 Sitze. Nach der letzten Wahl hatte die Regierungsbildung 494 Tage gedauert, 16 Monate. Der Rekord stammt aus dem Jahr 2009 mit 542 Tagen.

Liberale Alternative

So viel Zeit dürften die Verhandlungen diesmal nicht in Anspruch nehmen, aber es könnte sein, dass sich die Parteien bis zu den Kommunalwahlen im Herbst Zeit lassen. Ob de Wever am Ende als Sieger hervorgeht und selbst Premierminister wird, ist jedenfalls keineswegs sicher. Er ist wegen seiner radikalen Ansagen seit Jahren umstritten. Sollte ein Kompromiss nötig sein, wird die frühere Außenministerin Sophie Wilmès von den Liberalen (MR) als mögliche Alternative gehandelt. Sie war bereits Premierministerin, in einer Übergangsregierung nach dem Patt nach den Wahlen 2019.

Wilmès gelang ein besonders Kunststück. Sie hat bei den Europawahlen kandidiert und von den rund acht Millionen Wahlberechtigten mehr als 543.821 Vorzugsstimmen bekommen. Ein einsamer historischer Erfolg. So viel Vertrauen hat noch kein belgischer Politiker oder Politikerin je bekommen. Seither wird Wilmès praktisch jedes Amt zugetraut: Premierministerin in Belgien oder Ständige Präsidentin des Europäischen Rates oder Hohe Beauftrage für die EU-Außenpolitik. Zumindest, schrieben belgische Medien, sollte sie jedenfalls Fraktionschefin der Liberalen im EU-Parlament werden, die Französin Valérie Hayer ersetzen, die als Spitzenkandidatin eine herbe Niederlage in Frankreich zu verantworten hat. (Thomas Mayer aus Brüssel, 14.6.2024)