Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter stehen in einer Reihe im Verhandlungssaal am Verfassungsgerichtshof.
Die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter beschäftigen sich derzeit mit Fragen, die in der europäischen Migrationspolitik heiß diskutiert werden.
APA/HELMUT FOHRINGER

Nach dem tödlichen Anschlag auf einen deutschen Polizisten Anfang Juni dominiert die Debatte über Rückführungen nach Afghanistan die europäische Migrationspolitik: Sollen EU-Staaten Afghanen künftig wieder in ihr Herkunftsland abschieben? Trotz Herrschaft der Taliban?

Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) befürwortet das in bestimmten Fällen schon länger und hat in den vergangenen Monaten und Jahren Rückkehrentscheidungen gegen Afghanen erlassen. Nach Beschwerden von Betroffenen ist nun der Verfassungsgerichtshof (VfGH) am Zug. Er dürfte schon in den kommenden Wochen darüber entscheiden, ob Abschiebungen wieder zulässig sein können.

Frage: Warum dürfen Menschen, die kein Asyl haben, oft trotzdem nicht abgeschoben werden?

Antwort: Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert allen Menschen ein Recht auf Leben und ein Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung, egal wo sie herkommen, ob sie Anspruch auf Asyl haben und ob sie straffällig geworden sind. Die Grundrechtecharta der EU (GRC) sieht im Wesentlichen dieselben Grundrechte vor. Staaten sind dazu verpflichtet, all diese Rechte zu wahren und Menschen zu schützen. Dazu zählt auch, dass Menschen nicht in Länder abgeschoben werden dürfen, in denen ihre Grundrechte stark gefährdet sind.

Frage: Warum ist Österreich für Gefahren verantwortlich, die Abgeschobenen in anderen Ländern drohen?

Antwort: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das sogenannte Refoulement-Verbot etabliert. Es ist mittlerweile ein integraler Bestandteil der EMRK und besagt, dass Staaten mitverantwortlich für Menschenrechtsverstöße sind, wenn sie Menschen in Länder abschieben, in denen ihnen eine unmenschliche Behandlung, Folter oder sogar der Tod droht. In den EU-Grundrechten ist das Refoulement-Verbot in Artikel 19 sogar explizit geregelt. An diesem Verbot würde sich auch bei einer massiven Verschärfung des Asylrechts nichts ändern. Es gilt unabhängig davon, ob ein Mensch überhaupt Anspruch auf Asyl hat.

Frage: Wer entscheidet darüber, ob in einem Land Gefahren drohen?

Antwort: Behörden, Gerichte und in letzter Instanz die Höchstgerichte auf nationaler und europäischer Ebene. Richterinnen und Richter benötigen freilich Entscheidungsgrundlagen. In Österreich erarbeitet die Staatendokumentation im Bundesamt für Fremdenwesen und Asy Dossiers für bestimmte Länder. Auf europäischer Ebene ist das European Union Agency for Asylum (EUAA) dafür zuständig, Informationen zu sammeln und bereitzustellen.

Frage: Was ist derzeit die Praxis zu Afghanistan?

Antwort: Nach der Machtübernahme durch die Taliban hat der Verfassungsgerichtshof Abschiebungen nach Afghanistan für unzulässig erklärt. Das BFA erließ deshalb eine Zeitlang keine Rückkehrentscheidungen mehr, änderte seine Praxis aber offenbar wieder. Und auch das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hat bereits Rückkehrentscheidungen inklusive Abschiebungen für zulässig erachtet. In den Entscheidungen wird unter anderem damit argumentiert, dass die Anschlagsgefahr seit der Machtübernahme der Taliban gesunken ist. Einige Betroffene haben sich nun an den VfGH gewandt.

Frage: Welche Folgen hätte es, wenn der VfGH Abschiebungen wieder für zulässig erklärt?

Antwort: Grundsätzlich muss jeder Asyl- und Abschiebefall einzeln beurteilt werden. Selbst wenn der VfGH Abschiebungen in bestimmten Fällen für zulässig erachtet, könnte zum Beispiel die Abschiebung einer Frau oder einer homosexuellen Person weiterhin unzulässig sein, erklärt Rechtsanwalt Helmut Blum, der in einem der aktuellen Fälle vor dem VfGH vertritt. Bei Afghanistan gäbe es freilich weitere Hürde für Abschiebungen, selbst wenn diese menschenrechtlich zulässig wären: Westliche Staaten erkennen die Taliban nicht an und wollen bislang nicht mit ihnen kooperieren. Auch die Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten Afghanistans gestaltet sich schwierig. Beides könnte sich auf politischer Ebene freilich ändern.

Frage: Gelten die strengen Vorgaben der EMRK auch für Zurückweisungen an der Grenze (Pushbacks) und Abschiebungen in dritte Staaten, wie sie das Vereinigte Königreich nach Ruanda plant? Und wie ist das mit Familienzusammenführungen?

Antwort: Würde die Abschiebung in einen Staat erfolgen, in dem schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder der Tod drohen, greift das Refoulement-Verbot der EMRK, erklärt Manuel Neusiedler, Verfassungsrechtler und Experte für Migrationsrecht an der JKU Linz. Zurückweisungen an oder vor der Staatsgrenze (Pushbacks) in derart gefährliche Staaten sind ebenfalls verboten. Unzulässig wäre es sogar, eine "Kette" von Abschiebungen auszulösen, die in einem solchen Staat endet. Eine Außerlandesbringung kann nicht nur aufgrund von Gefahren im Ausland, sondern auch wegen eines in Österreich aufgebauten Privat- oder Familienlebens untersagt sein. Die EMRK kann dann sogar Familienzusammenführungen gebieten. In diesen Fällen haben die Staaten jedoch einen gewissen Spielraum, weil sie abwägen können, ob andere Gründe wie Sicherheitsfragen das Interesse der Personen am Verbleib in Österreich oder am Nachzug überwiegen.

Frage: Könnte man das Refoulement-Verbot in der EMRK ändern?

Antwort: Grundrechte können geändert werden; die Voraussetzungen sind aber äußerst hoch. Notwendig wäre eine Zustimmung aller EMRK-Vertragsstaaten. In Österreich bräuchte es zudem eine Änderung der Verfassung, weil die EMRK hierzulande im Verfassungsrang steht und den zentralen Grundrechtsbestand der Rechtsordnung bildet. Ähnlich verhält es sich mit der EU-Grundrechtecharta, die wesentliche Grundrechte der EMRK nachbildet. Auch hier wäre für eine Änderung die Zustimmung aller EU-Staaten erforderlich. "So gesehen ist die EMRK in Österreich gleich dreifach abgesichert", erklärt Christoph Bezemek, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Graz. Der Jurist hält es grundsätzlich für zulässig, eine Debatte über Grundrechte zu führen. Selbst vor dem Hintergrund der Debatte über die Abschiebung straffälliger Asylwerber sollte man allerdings "nicht leichtfertig mit Änderungen umgehen", sagt Bezemek. "Gerade in diesen schwierigen Fällen ist Menschenrechtsschutz wichtig, auch wenn uns das als Gesellschaft vor Herausforderungen stellt." (Jakob Pflügl, 20.6.2024)