Drei Tage nach der Europawahl war der bemerkenswerte Ausgang des Kräftemessens immer noch Gesprächsthema der ungarischen politischen Klasse. Die erfolgsverwöhnte Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán hatte am Sonntag mit 44,6 Prozent Stimmenanteil ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei landesweiten Wahlen seit 18 Jahren eingefahren. Der neue Stern an Ungarns politischem Himmel, der ehemalige Regimegünstling und nunmehrige Dissident Péter Magyar, hatte mit seiner Tisza-Partei aus dem Stand 29,7 Prozent der Wähler und Wählerinnen hinter sich gebracht. 1,34 Millionen Bürger hatten für ihn gestimmt.

"Die Tisza-Partei ist im Aufwind", meinte der Meinungsforscher Tibor Závecz am Dienstagabend bei einer Podiumsveranstaltung in Budapest. "Der Trend, sich dem Sieger anzuschließen, wird anhalten." Pál Dániel Rényi analysierte am Mittwoch im Portal 444.hu: "Péter Magyar und die Tisza-Partei griffen sich einen entscheidenden Teil der traditionellen linken Wählerbasis, banden mehrere Zehntausend inaktive Wähler an sich und saugten die Anhängerschaften diverser rechter Mikro-Parteien auf. Magyar hat die Position des Herausforderers eingenommen. Noch nie erlebten wir einen ähnlichen Durchmarsch in der ungarischen Politik."

Péter Magyar mit ungarischer Fahne.
Péter Magyar hat dem System Orbán den Kampf angesagt.
REUTERS/Bernadett Szabo

Als er am Tag nach dem Rücktritt von Staatspräsidentin Katalin Novák – es hatte sich herausgestellt, dass sie den Komplizen eines pädophilen Straftäters begnadigt hatte – ins Studio des unabhängigen Internet-TV-Senders Partizán marschierte, war Péter Magyar noch ein weitgehend unbekannter Mann. Als Ex-Ehemann der ehemaligen Justizministerin Judit Varga hatte er wenig auffällige Ämter und Funktionen in staatlichen und staatsnahen Institutionen und Unternehmen bekleidet. Seine Ex-Frau, die als Spitzenkandidatin des Fidesz für die Europawahl vorgesehen war, musste sich gleichfalls aus der Politik zurückziehen, weil sie als damalige Justizministerin Nováks Amnestiedekret gegengezeichnet hatte.

"Ich steige aus dem System aus", hatte Magyar im Partizán-Interview verkündet. Dass Orbán die beiden Frauen im Pädophilie-Begnadigungsskandal als Bauernopfer ausnutzte, habe ihn empört. Als Mitwisser und Insider in einem durch und durch korrupten System habe das in ihm das Fass zum Überlaufen gebracht.

Nie gesehene Großdemonstrationen

In den folgenden Monaten zog Magyar nie gesehene Menschenmassen zu seinen Kundgebungen in Budapest, aber auch in verschiedenen Provinzstädten an. Erstmals war die absolute Diskurshoheit des seit 2010 mit autoritären Zügen herrschenden Orbán durchbrochen worden. Auf den Marktplätzen des Landes murmelte man nicht mehr bloß die abstrusen, prorussischen Slogans der "Friedenspartei" Fidesz nach, sondern man begann, über Magyars Vorwürfe gegen das Orbán-System zu sprechen. Der musste es ja schließlich als ehemaliger Mitläufer und Ex-Ehemann einer Ministerin wissen. Die Europawahl erbrachte nun den messbaren Nachweis: Wenn jemand die Chance hat, Orbán auf demokratischem Weg durch Wahlen zu stürzen, dann ist er es. Die nächsten Wahlen stehen turnusmäßig im Frühjahr 2026 an.

Orbán sah in der Wahlnacht in seinem ersten Statement auf einer selten verwaisten Wahlparty in einer hippen Budapester Veranstaltungslocation eher zerknittert aus der Wäsche. Den Namen Magyar erwähnt er nicht. Auch nicht am nächsten Tag, als er sich – deutlich gefasster – im Staatsfernsehen M1 äußerte. "Oppositionsparteien kommen und gehen, aber wir siegen immer", sagte er. Von den Zahlen her traf das auch auf den Sonntag zu, Fidesz wurde stimmenstärkste Partei. Doch es ist die Dynamik, die ihn bedrängt – und auf die er öffentlich nicht eingehen will.

Doch auch vor Magyar liegt noch ein weiter Weg. Er braucht Strukturen, Netzwerke, verlässliche Aktivisten, Experten, ein Hinterland. Derzeit ist bei ihm nichts davon sichtbar. Er scheint sich dessen bewusst zu sein. "Die Zeit der One-Man-Show ist nach der Europawahl vorbei", erklärte er. Dann beginne die Zeit des Aufbaus. Ob er dabei auf Erfolgskurs bleibt, wird sich weisen. (Gregor Mayer aus Budapest, 13.6.2023)