Emmanuel Macron
Emmanuel Macron bei der Pressekonferenz am Mittwoch.
AP/Michel Euler

Der britische Ministerpräsident David Cameron war eigentlich für die EU-Mitgliedschaft seines Landes. Trotzdem setzte er 2016 eine Volksabstimmung an – und prompt stimmten die Briten für den Brexit.

Jetzt kommt vielleicht auch Emmanuel Macron in die Ahnengalerie jener Politiker, die sich mit einem historischen Entscheid ins eigene Knie geschossen haben. Der französische Präsident hat am Sonntag nach seiner Niederlage bei der Europawahl gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen flugs Neuwahlen anberaumt.

Die Umfrageinstitute sind sofort aktiv geworden und haben bestätigt, was in Frankreich alle geahnt haben: Der Rassemblement National (RN) könnte in knapp einem Monat auch diese Parlamentswahl gewinnen. Damit könnte er die Regierung stellen und – wohl in der Person des jungen Vizes Jordan Bardella – den Posten des Premierministers übernehmen. Macron, der Mann der Mitte, müsste damit eine "Cohabitation" mit seinen rechten Erzfeinden eingehen, mit denen er sich seit sieben Jahren ein hartes Duell liefert.

Harakiri statt Rettung

Pariser Medien sprechen schon nicht mehr von einem Schuss ins Knie, sondern von Harakiri. Dabei wollte Macron mit der Neuwahl gerade seine Haut retten. In Frankreich kann der Staatschef die Regierung auswechseln, auch wenn er selbst bedrängt ist. Macron ist unpopulär, seitdem er das Pensionsalter erhöht hat. Er gilt als selbstgefällig und abgehoben, weil er nicht gemerkt hat, wie die unteren Einkommensklassen unter der Inflation leiden. Es ist das Elysée-Syndrom: Der Staatschef verliert in seinem "Château" – wie der Präsidialsitz in Paris genannt wird – den Kontakt zu seinen Untertanen. Er übersieht in seiner Hybris, dass er weitherum so viel Antipathie bewirkt, dass sich jede Wahl in ein Plebiszit gegen ihn verwandelt. Isoliert, spürt er die Stimmung im Land nicht mehr. Dort herrscht der Volkszorn. Und der ruft nach Le Pen.

Was veranlasste Macron zur Ansetzung von Neuwahlen? Vielleicht überlegte er, dass die Le Pen-Partei ohne Wahlallianzen in dem Mehrheitswahlsystem kaum in der Lage sein werde, eine Mehrheit der Sitze zu ergattern. Falsch, rechnen nun die Umfrageexperten vor. Oder er sagte sich, dass sich die unerfahrenen RN-Minister in der Regierung rasch abnützen und Le Pen so die ungleich wichtigere Präsidentschaftswahl 2027 verlieren werde.

Die Pariser Medien nennen Macron vielmehr einen "Zauberlehrling", der mit Dynamit hantiere. Andere sagen, Macron habe seine Allmachtsgefühle nicht unter Kontrolle und einen "acte manqué" begangen, einen Freud'schen Versprecher oder Schnitzer: Er habe sich seit Jahren so künstlich als oberster Herold gegen Le Pen inszeniert, dass er sie schließlich ungewollt an die Macht hole.

Warnungen nicht gehört

Insidern zufolge hatten ihn seine Berater und Minister bis hinauf zu Premier Gabriel Attal vor der Ansetzung von Neuwahlen gewarnt. Sie erinnerten Macron an seinen Vorvorgänger Jacques Chirac. Der Gaullist hatte 1997 Neuwahlen angesetzt, um sein Lager zu disziplinieren, erhielt aber von den Wählern den sozialistischen Widersacher Lionel Jospin ins Nest gesetzt. "Pech für den Künstler" nennt man das in Paris.

Noch hat Le Pen die Parlamentswahl nicht gewonnen, noch ist ihr historischer Einzug in den Regierungspalast nicht perfekt. Die französische Innenpolitik steht aber bereits kopf. Die sonst so zerstrittene Linke hat sich zu einer "Volksfront" vereinigt. Die bürgerlichen Republikaner zerreißen sich dagegen, weil ihr Parteichef Éric Ciotti zu einer Wahlallianz mit den Lepenisten aufruft. Auch das war noch nie da. So bröckelt nun die Brandmauer um Le Pen.

Und mit ihr die Schutzmauer um den Herrscher im Elysée. Am Mittwoch musste er klarstellen, dass er nicht daran denke zurückzutreten. Das wäre "absurd", erklärte er bei einer Pressekonferenz.

Die Ansetzung von Wahlen rechtfertigte Macron mit der "Wut" vieler Bürger, die man nicht ignorieren könne. Wenn sie nicht erhört werde, werde sie bei der noch wichtigeren Präsidentschaftswahl in drei Jahren durchbrechen. "Und ich will den Schlüssel des Elysée-Palastes nicht 2027 der extremen Rechten aushändigen müssen." Lieber, so scheint es, ernennt er im Juli eine rechtsextreme Regierung. (Stefan Brändle aus Paris, 12.6.2024)