Verschiedene Tabletten mit einer Dose, aus der sie herausfallen als Illustration.
Wer schwer krank ist, braucht oft innovative Medizin. Aber nicht in jedem Land der EU übernimmt das öffentliche Gesundheitssystem die Kosten.
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Im Jänner 2023 kämpfte Kadri Tennosaar bereits seit drei Jahren gegen den Krebs. Zuerst schnitten die Ärzte den Tumor aus ihrer Brust, dann begann die Behandlung. Vier Chemotherapiesitzungen später hatte der Arzt das Schwarz-Weiß-CT-Bild von Tennosaars Lunge in seiner Hand. Wie winzige Regentropfen waren die weißen Punkte aneinandergereiht. Der Krebs wuchs in beiden Lungenflügeln. Die Behandlung hatte nicht angeschlagen. "Ich brach in Tränen aus", erinnert sich Tennosaar. Mit 53 Jahren wollte sie nicht sterben. "Der Arzt tat so, als gäbe es mich gar nicht."

Doch ein anderer Arzt gab Tennosaar Hoffnung. Es gab ein Medikament – Enhertu –, das ihr helfen konnte. „Plötzlich hatte ich wieder Hoffnung", sagt Tennosaar heute. Das Problem: Die Behandlung mit Enhertu kostet 20.000 Euro für drei Monate. Normalerweise müssen die Patienten dieses Mittel über ein Jahr lang einnehmen. Geld, das sich Tennosaar, die bis zu ihrer Erkrankung für einen Sportplatz im Stadtteil Mustamäe der estnischen Hauptstadt Tallinn verantwortlich war, nicht leisten kann.

Recherche legt dramatische Lücken offen

Der Ort, wo in der EU Patienten wie Kadri Tennosaar leben, bestimmt weitgehend darüber, ob sie die Medikamente erhalten, die ihr Leben verlängern oder gar retten können. Das ergibt eine Analyse von Investigate Europe, die im Rahmen der Serie "Tödliche Preise" veröffentlicht wird und zeigt, wie viele kritische Medikamente tausenden von Menschen in der gesamten EU nicht über die allgemeine Kostenerstattung zur Verfügung stehen. Patienten in den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten sind oft am stärksten vom fehlenden Zugang betroffen. An der Recherche haben Journalisten aus 21 Ländern teilgenommen haben – unter anderem Arte, Süddeutsche Zeitung, Info Libre und DER STANDARD.

Das deutsche Forschungsinstitut IQWiG hat für Investigate Europe eine Liste von 32 Medikamenten zusammengestellt, die nach Einschätzung der Wissenschafter zwischen 2019 und 2023 einen "signifikanten" oder "erheblichen" Zusatznutzen zu bestehenden Therapien haben. Das bedeutet, dass ein Medikament das Leben von Patienten verlängern oder verbessern kann und möglicherweise auch weniger Nebenwirkungen hat. Zu den ausgewählten Medikamenten gehören Behandlungen für Krankheiten wie Brustkrebs, Leukämie und Mukoviszidose.

Die europaweite Recherche zeigt, dass in sechs EU-Ländern eines von vier wichtigen Medikamenten fehlt. Ohne Kaufvereinbarungen zwischen Ländern und Unternehmen, die die Grundlage für die Kostenerstattung bilden, müssen die Gesundheitsbehörden auf andere kostspielige Methoden zurückgreifen, um ein Medikament zu erhalten, oder haben überhaupt keinen Zugang. Besonders dramatisch ist die Situation in Ungarn, wo 25 von 32 Arzneimitteln nicht allgemein erstattet werden, sowie in Malta und Zypern, wo 19 bzw. 15 Arzneimittel ebenfalls nicht verfügbar sind. In Zypern und Ungarn können Patienten einige Medikamente über einen Antrag auf individuellen Zugang erhalten – allerdings oft zu überhöhten Kosten für den Staat. Auch in den baltischen Staaten und in Rumänien ist eine große Anzahl wichtiger Arzneimittel nicht verfügbar.

EMA entscheidet

In Europa trifft die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die erste zentrale Entscheidung darüber, welche Arzneimittel auf dem EU-Markt zugelassen werden. Erhält ein Hersteller die Zulassung für sein Produkt, gewährt ihm die EU für mindestens acht Jahre ein Monopol auf seinen Wirkstoff. Diese Exklusivität bedeutet, dass kein anderer Arzneimittelhersteller ein Medikament mit demselben Wirkstoff auf den Markt bringen kann. Folglich gibt es keinen Wettbewerb zwischen den Herstellern. Danach können die Pharmaunternehmen frei entscheiden, ob und in welchen EU-Ländern sie ihre Arzneimittel vermarkten wollen. Bisher haben die Gesundheitsbehörden fast immer individuell mit den Unternehmen verhandelt.

Die Landkarte von Europa ist als Fahne dargestellt.
Geht es um den Einkauf und die Verfügbarkeit teurer Medikamente, profitieren die EU-Bürger nicht vom Binnenmarkt.
IMAGO/Zoonar.com/mirkomedia

"Im Prinzip sollte jeder in der EU vom Binnenmarkt profitieren", sagt Anwältin Ellen 't Hoen, die sich für einen fairen Zugang zu Arzneimitteln einsetzt. "Aber Medikamente sind im Binnenmarkt nicht für alle gleichermaßen zugänglich." Daran sind zum Teil die Pharmaunternehmen schuld, die ihre Produkte zunächst in Ländern vermarkten, die "hohe Preise tolerieren".

Paul Fehlner war fast ein Jahrzehnt lang Leiter der Patentabteilung des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis. Jetzt ist er Leiter der Abteilung für geistiges Eigentum beim US-Biotech-Unternehmen Revision Therapeutics. Fehlner erklärt die Strategie der Arzneimittelhersteller von heute: "Normalerweise versuchen Pharmafirmen zuerst, die größten Märkte zu erobern, was auch Sinn macht. So erhalten Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und andere Märkte Zugang zu dem Produkt, aber andere Länder werden zurückgestellt, weil sie nicht so groß sind."

Efpia, der Europäische Verband der Pharmazeutischen Industrie und ihrer Verbände, weist jegliche Schuldzuweisung an die Unternehmen zurück. Es bestehe ein "breiter Konsens" darüber, dass sich die Arzneimittelpreise an der Zahlungsfähigkeit eines Landes orientieren sollten. Als Gründe für die Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln nennt der Verband "langsame Regulierungsverfahren", "Verzögerungen bei der Einleitung nationaler Gesundheitstechnologiebewertungen" und "lokale Rezepturentscheidungen der Gesundheitsdienstleister".

Pharma hat große Marktmacht

Die Pharmaunternehmen nutzen zudem ihre Marktmacht, um die Länder zu zwingen, die ausgehandelten Preise geheim zu halten. Die nationalen Verhandlungsführer müssen Vertraulichkeitsvereinbarungen unterzeichnen. Auf diese Weise können Unternehmen verbergen, welche Rabatte sie den Staaten gegenüber dem offiziellen Preis eines Medikaments gewähren. Die Staaten verhandeln blindlings. So können die Unternehmen in den ärmeren osteuropäischen Ländern viel mehr für ihre Medikamente verlangen als im reicheren Westeuropa. Der Mangel an unentbehrlichen Arzneimitteln in weniger bevölkerungsreichen oder einkommensschwachen Staaten ist damit auch das Ergebnis der Unternehmenspolitik der Pharmaunternehmen.

Ein Mitarbeiter hält in einem Labor eine Phiole mit einem Wirkstoff hoch. 
Pharmakonzerne zwingen Käufer zu Vertraulichkeitsvereinbarungen für ausgehandelte Preise.
APA/dpa/Uwe Anspach

Ein Apotheker, der für eine ungarische Tochtergesellschaft eines multinationalen Arzneimittelherstellers arbeitet, erklärt: "Für ein Unternehmen wie Novartis oder Pfizer ist der ungarische Markt ein Rundungsfehler." In dem Land haben Patienten keinen Zugang zu 25 von 32 Medikamenten durch Erstattung. "Ich würde heutzutage kein Krebspatient in Ungarn sein wollen", sagt der Apotheker. Der ungarische Staat macht sich einen Mechanismus zunutze, der zur Lösung von Einzelfällen eingeführt wurde und bei dem einzelne Patienten die Erstattung ihrer Behandlungskosten beantragen können. Wenn der Antrag genehmigt wird, übernimmt die Sozialversicherung die gesamten Behandlungskosten. Zwischen 2013 und 2022 ist die Zahl der Anträge um das Achtfache gestiegen. Von den mehr als 25.000 Anträgen im Jahr 2022 wurden neun von zehn genehmigt. Ohne offizielle Kostenerstattungsgenehmigung schießen die Preise für diese Medikamente in die Höhe. "Es gibt keinen Spielraum für Verhandlungen", sagt ein ungarischer Beamter. Für die Patienten besteht das größte Problem in diesem System in der Ungewissheit, ob sie eine Behandlung erhalten.

Hoffnungen schwinden

In Tallinn schwanden Anfang 2023 die Hoffnungen der Brustkrebspatientin Tennosaar. Die Regierung wollte nicht für das Medikament zahlen, das ihr helfen könnte. Trotz des Urteils des deutschen IQWiG-Instituts, das feststellt: „Es gibt Hinweise auf einen signifikanten Zusatznutzen für den Endpunkt Gesamtüberleben.“ Obwohl das Medikament im Jänner 2021 von der EMA zugelassen wurde, dauern die Verhandlungen mit Estland noch immer an. Es kann Jahre dauern, bis Patienten in ärmeren Ländern Zugang zu dem Medikament erhalten, wenn Pharmaunternehmen ihre Produkte nur in reicheren Ländern auf den Markt bringen. Diese Zeit haben schwerkranke Menschen oft nicht.

Von der EMA-Zulassung bis zur Kontaktaufnahme eines Pharmaunternehmens mit den estnischen Behörden im Zeitraum von 2021 bis 2023 vergingen durchschnittlich 680 Tage, also fast zwei Jahre. Erki Laidmäe, Leiter der Abteilung für Arzneimittel und Medizinprodukte bei der estnischen Krankenkasse, erklärte gegenüber Investigate Europe, dass mit dem Hersteller von Enhertu, Daiichi Sankyo, "noch kein akzeptables Preisniveau erreicht wurde". Laidmäe fügte hinzu, dass in anderen Fällen „Medikamente auf unserem Markt fehlen, weil es bereits eine Alternative gibt. Die Patienten werden nicht unbehandelt gelassen. Unser Markt ist sehr klein, und die Hersteller werden nicht in ihn eindringen, wenn der Marktanteil klein zu bleiben verspricht. Wer zuerst kommt, bekommt oft den ganzen Markt, und für die anderen ist kein Platz mehr."*

In Deutschland hingegen garantiert die Gesetzgebung den Arzneimittelherstellern, dass die Krankenkassen jedes von der EMA zugelassene Medikament erstatten. Damit sind die Mittel für die Patienten – anders als in Estland – auch sofort verfügbar. In Österreich ist das System fragmentierter. Der Dachverband der Sozialversicherungsträger entscheidet über die Erstattung von Medikamenten für den niedergelassenen Bereich (Arztpraxen). Patienten bezahlen dann nur die aktuelle Rezeptgebühr. Für den Einsatz in Spitälern können die Spitalsträger selber entscheiden und über ihr Beschaffungsmanagement bestimmte Medikamente einkaufen.

Alternativen als Hoffnung

In einigen europäischen Ländern müssen Wohltätigkeitsorganisationen seit langem die Lücke, die zögerliche Pharmaunternehmen und klamme Regierungen hinterlassen, füllen. In Estland hat die Wohltätigkeitsorganisation Kingitud Ule (Begabtes Leben) seit ihrer Gründung vor zehn Jahren mehr als 2000 Patienten geholfen. Kadri Tennosaar und ihr neuer Arzt reichten Anfang 2023 einen Antrag auf Unterstützung durch eine Wohltätigkeitsorganisation ein. "Ich hatte Angst, dass der Ausschuss meinen Antrag ablehnen würde", erinnert sich Tennosaar.

Doch der Fonds bewilligte die Behandlung, im März des Vorjahres sah Tennosaar das Medikament, das ihr Leben retten könnte, zum ersten Mal. Das Medikament sah "durchsichtig wie Wasser" aus. Als es ihr verabreicht wurde, fühlte es sich zunächst an wie ihre frühere Chemotherapie. Später erzählte Tennosaar von den folgenden Tagen: "Ich war schwach. Es hat mir die Kraft aus dem Körper genommen."

Wenn die Crowd hilft

Weniger als vier Autostunden von Tallinn entfernt, im Eastern Hospital in der lettischen Hauptstadt Riga, behandelt die Onkologin Alinta Hegmane regelmäßig Krebspatienten, für die es längst innovative Medikamente gibt. "Aber die Kosten für bestimmte Behandlungen werden nicht übernommen", sagt sie. "Das ist hier Alltag." Nach den Recherchen von Investigate Europe werden die Kosten für elf der 32 wichtigsten Medikamente nicht erstattet.

Eine Person hält eine Geldbörse, in der Hand. Darin zu sehen sind verschiedene Euro-Scheine.
Über Wohltätigkeitsorganisationen oder Crowdfunding versuchen Patienten, genügend Geld für ihre Behandlung aufzubringen.
IMAGO/Fotostand / K. Schmitt

Deshalb melden sich ihre Patienten vom Krankenhausbett aus auf der Crowdfunding-Plattform Ziedot an. Dort machen sie ihren Fall bekannt. Sie schreiben einen Text über sich und ihre Krankheit. Sie konkurrieren um das Geld der Leser, das diese mit einem Klick auf einen Button direkt spenden können. Viola aus Riga zum Beispiel sagt in ihrem Beitrag, dass sie vor ihrer Krebserkrankung eine "aktive Frau" war. Jetzt bittet sie auf der Plattform um "die Chance, noch ein Jahr zu leben". Sie braucht Enhertu für ihre Behandlung. Wie das estnische Gesundheitssystem deckt auch das lettische Gesundheitssystem die Behandlungskosten nicht ab. Bisher haben Spender Viola mit 590 Euro geholfen. Für ihre Behandlung braucht sie 45.212 Euro.

Die Regierung verklagt

In der westrumänischen Stadt Lugoj musste die Brustkrebspatientin Andreea Crăciun ihr eigenes Gesundheitssystem vor Gericht bringen. Bei ihr wurde Ende November 2023 Brustkrebs diagnostiziert. "Dann ging alles sehr schnell", erinnert sich Crăciun. Innerhalb von zwei Wochen begann sie mit der Chemotherapie. "Der Krebs war sehr aggressiv." Der zweite Schock kam, als sie erfuhr, dass der Staat die Kosten für die Behandlung mit dem benötigten Medikament Keytruda nicht übernehmen würde. Eine Behandlung kostet 5000 Euro. Die ersten drei konnte sie noch selbst bezahlen. "Dann wusste ich nicht, was ich tun sollte", erinnert sie sich heute. In ihrer Verzweiflung wandte sich die Mutter von zwei Schulkindern an einen Anwalt. Am 2. Februar dieses Jahres reichte dieser Klage gegen den rumänischen Staat ein. Zehn Tage später entschied das Gericht zu ihren Gunsten. Heute bezahlt die staatliche Gesundheitskasse ihre Behandlung.

Laut dem Onkologen Michael Schenker, Leiter der nationalen Krebskommission des Landes, erhielten 2023 mehr als 1000 Patienten in Rumänien per Gerichtsbeschluss die benötigten Krebsmedikamente auf Staatskosten. Dem Land fehlen die Mittel, um innovative Medikamente zu bezahlen – 22 der 32 innovativsten Medikamente sind nicht verfügbar. Schenker hat die Behörden aufgefordert, das Budget der nationalen Krankenkasse, deren Vorsitzender er ist, zu verdoppeln. Der Staat lehnte dies ab. Rumänien hat keinen Zugang zu sechs der 32 innovativen Medikamente. Die Regierung erklärte, in mehreren Fällen hätten die Hersteller beschlossen, ihr Produkt nicht zu vermarkten.

Mängel auch in reichen Ländern

In der gesamten EU haben nur Deutschland und Österreich Zugang zu allen 32 Medikamenten. Doch auch in den wohlhabenden Ländern gibt es Lücken bei der Verfügbarkeit, so in den Niederlanden (wo fünf Medikamente fehlen) sowie in Irland (4) und Frankreich (3). Mayeul Charoy, ein französischer Beamter, der eng mit der Erstattung von Arzneimitteln zusammenarbeitet, sagte in einer kürzlich abgehaltenen Branchenkonferenz zu Investigate Europe: „Ja, diese Medikamente (aus der Recherche-Liste; Anm.) werden noch nicht erstattet, weil die Hersteller noch kein akzeptables Angebot vorgelegt haben.“

Um dies zu ändern, haben mehrere Initiativen versucht, gemeinsame Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. "Wir wollten sicherstellen, dass mehrere Patienten Zugang zu wichtigen Arzneimitteln haben", erinnert sich die ehemalige belgische Gesundheitsministerin Maggie De Block. Zusammen mit ihren Kollegen aus den Niederlanden und Luxemburg gründete sie 2015 die gemeinsame Beschaffungsinitiative Beneluxa. „Wir sind kleine Länder und hofften, gemeinsam besser verhandeln zu können“, sagt De Block. Auch Irland und Österreich haben sich Beneluxa angeschlossen.

Maggie De Block, ehemalige Gesundheitsministerin von Belgien, steht hinter einem Podium und redet.
Belgiens ehemalige Gesundheitsministerin Maggie De Block war Teil der Gründung von Beneluxa.
APA/AFP/Belga/LAURIE DIEFFEMBACQ

Allerdings ist es den fünf Ländern in den vergangenen neun Jahren nur gelungen, drei Medikamente gemeinsam zu beschaffen. Clemens Auer, ehemaliger Generalsekretär im österreichischen Gesundheitsministerium, bezeichnet Beneluxa als "politisches Signal an die Industrie", auch wenn er einräumt, dass es unter den gegebenen Umständen nicht auf die gesamte Europäische Union ausgedehnt werden kann. Der ungleiche Zugang bleibt also bestehen. Es sei ein Skandal, so Auer, dass es in Europa Bürger erster, zweiter und dritter Klasse gebe, wenn es um den Zugang zu neuen Medikamenten gehe.

Allianzen scheitern

Das Problem ist in ganz Europa zu spüren. In einem Interview mit Investigate Europe beklagt sich ein ehemaliger Gesundheitsbeamter in Irland: "Dass die 27 Mitgliedsstaaten für sich selbst verhandeln, ist erstaunlich ineffizient und führt zu Ungleichheit für die europäischen Bürger." Im Jahr 2016 sandte der damalige zypriotische Gesundheitsminister George Pamborides ein Schreiben an den damaligen EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis, in dem er sich beschwerte, dass sein Land "sehr spät" Zugang zu innovativen Medikamenten erhalte. Der Brief liegt Investigate Europe vor. Pamborides schlug daher vor, dass die EU einen Mechanismus einrichtet, um kleine Mitgliedstaaten mit Pharmaunternehmen an den Verhandlungstisch zu bringen, "um Vorzugspreise für die Beschaffung innovativer Arzneimittel zu sichern". Der Brief verschwand in der Schublade und mit ihm die Idee.

Bei einem Treffen der EU-Gesundheitsminister im November 2023 setzten Griechenland und Malta erneut einen zentralen Beschaffungsmechanismus für innovative Arzneimittel auf die Tagesordnung. Doch Deutschland wischte diesen schnell beiseite. "Der gemeinsame Einkauf sollte nur bei grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren eingesetzt werden", sagte der deutsche Vertreter im Plenum.

EU findet keinen Weg

Auch die EU-Kommission hat das Problem erkannt. 2020 kündigte sie an, dass sie ihre Arzneimittelstrategie überarbeiten werde. Drei Jahre später, im April 2023, legte sie ihren Legislativvorschlag, das Pharmapaket, vor. Bei der Präsentation sagte die für Gesundheit zuständige Kommissarin, Stella Kyriakides: "Wo Sie leben, sollte nicht darüber entscheiden, ob Sie leben oder sterben." Die Kommission erklärte Investigate Europe, dass das Paket "jährlich 60 bis 70 Millionen zusätzlichen Patienten den Zugang zu innovativen Medikamenten in der EU ermöglichen würde". Trotz langwieriger Verhandlungen konnte bisher kein Ergebnis erzielt werden.

EU-Kommissarin für Gesundheit, Stella Kyriakides bei einer Rede.
Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit: "Wo Sie leben, sollte nicht darüber entscheiden, ob Sie leben oder sterben."
EPA/RONALD WITTEK

Im März dieses Jahres war es für Tennosaar nach jahrelanger Krankheit eine bereits vertraute Prozedur, als sie sich auf das kalte Bett legte und mit lautem Getöse durch den CT-Scanner glitt. Ist der Krebs gewachsen? Ein paar Wochen später hat der Arzt gute Nachrichten. "Es war ein kleines Wunder", sagt Tennosaar heute. Sie beschreibt den Moment, in dem sie erfuhr, dass sie in Remission gegangen war. Das neue Medikament, Enhertu, hat gewirkt. Der Krebs ist aus ihrer Lunge verschwunden. Auf den Fotos sind nur noch Narben zu sehen. (Nico Schmidt, Mitarbeit: Bettina Pfluger, 13.6.2024)