Sportlich geht es auch zu in "Sancta", der Opernperformance von Florentina Holzinger.
Nicole Marianna Wytyczak

Glaubenslust ist eine menschliche Schwäche. Die einen hängen sich an Erlöser, andere unterwerfen sich Ideologien, und Florentina Holzinger tanzt durch das Inferno in Richtung Elysium. Auf dem Berg der Läuterung namens Wiener Festwochen veranstaltet diese choreografische Aktionistin gerade mit ihrem neuen Stück Sancta eine höllisch harte, aber auch selig satirische Party.

Als Anlass dafür hat sie sich Paul Hindemiths Oper Sancta Susanna (1922) hergenommen. Das Werk des deutschen Komponisten dauert knappe dreißig Minuten, Holzinger lässt es zweieinhalb Stunden lang krachen. Mit dabei sind, neben der Crew der Choreografin, die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin und der Opernchor des Mecklenburgischen Staatstheaters. Zum frenetischen Jubel am Ende des Stücks verbeugt sich eine gefühlte Hundertschaft an Mitwirkenden auf der Bühne der ausverkauften Halle E im Museumsquartier.

Lustdurchwogte Heilige

Als Hintergrundmotiv für Hindemith und Holzinger ist Gian Lorenzo Berninis 1652 vollendete Marmorskulptur Estasi di Santa Teresa d'Avila (Verzückung der heiligen Theresa in der römischen Kirche Santa Maria Vittoria) vorstellbar. Da zielt ein gönnerhaft lächelnder Engel mit seinem goldenen Speer auf die lustdurchwogte Heilige. Der Aufruhr ihrer Erregung zeigt sich in den aufgewühlten Falten der Kleidung beider Figuren.

Die Heilige Susanna bei Hindemith, respektive seinem Librettisten August Stramm, erfährt diese Verzückung im widerspenstigen Drang, sich dem Abbild von Jesus auf dem Kreuz körperlich hinzugeben. Als Nonne nimmt sie ihre Rolle der Braut Christi so wörtlich wie fleischlich. Für Florentina Holzinger bedeutet die Entscheidung für diese Ekstase den Ausbruch der Frau aus dem Kontrollsystem der Kirche.

Affekte und nackte Haut

Was sich bei Bernini aus den Kleidungsfalten des Engels und der Nonne fühlen und ablesen lässt, muss in Sancta zu affektiven Aktionen und expliziten Bildern werden, denn die Figuren sind dort überwiegend nackt. Diese Heldinnen tragen ihre inneren Stürme nach außen, sie kopulieren auf dem Kreuz und einer Kletterwand und reißen die Sixtinische Kapelle ein. Da wird ein Stückchen Haut aus einer der Performerinnen geschnitten und von dieser in einer kleinen Spiegeleipfanne geröstet oder das Kreuz zum Lichtschwert wie bei Star Wars und von einer Schwertschluckerin durch deren Mund tief eingeführt.

Da steht die Sixtinische Kapelle nicht mehr: Performerinnen als lebendige Glocken.
Nicole Marianna Wytyczak

Als sakraler Assistent dient ein Roboter-Arm, der anfangs eine große Kerze hält, dann aber auch eine kleinwüchsige Päpstin (Nestroy-Preisträgerin Saioa Alvarez Ruiz) schwenkt und dreht. Diese Maschine verbindet hier grenzgenial den Glauben an einen Gottvater mit jenem an den Herrgott Technik, dem sich die Menschheit mit äußerster Verzückung ausliefert – allerdings ohne Ambition, sich gegenüber diesem Popanz zu emanzipieren.

Jesus Christ!

Prominent tritt auch ein abgedrehter Jesus auf, der unter anderem die vielen Versuche widerspiegelt, den Sohn Gottes popkulturell zuzuschneiden. Es ist ein zugedröhnt wirkender gefallener Erlöser mit Dornenkrone, Bart und Busen, der Schweizerdeutsch sprechen kann. Florentina Holzinger schüttelt Fellini, von dem ihr Hang zu originellen Gestalten kommen könnte, und ein Schlückchen von Pasolinis wüstem Salò-Film zusammen. Dabei sind die 120 Sancta-Minuten über Hindemiths Oper hinaus der Struktur einer Messe nachgebaut.

Dieser Teil der Aufführung wird zum satirischen Hochamt aus doppelbödig angelegtem Spott, der nicht ausschließlich auf die Sünden der Kirche zielt. Denn im Publikum sitzen doch etliche, die in Sankt Milos Festwochen-Theater kommen wie in eine Kirche – um dort nach Halt und Orientierung zu suchen. Ihnen leuchten Holzinger und die Ihren in einem üppigen Schlussakt heim, mit Prophezeiungen, öffentlichen Beichten, ausuferndem Zuwendungskitsch bis hin zum bewegenden Chor zum Mitsingen als Auftrag: "Don't dream it, be it!" Lebe deinen Traum. Das ist die vielleicht makaberste Szene dieses bunten Abends. (Helmut Ploebst, 11.6.2024)