Mittel-Alter Kolumne Satire
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommisson, begegnet dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: Menschliche Nähe verbürgt Beistand auch in schwierigen Zeiten.
IMAGO/Presidential Office of Ukr

Zuletzt hat sich eine große, wahlwerbende Partei anheischig gemacht, den "EU-Wahnsinn zu stoppen". Auf ihrem Wahlplakat sah man – zwischen Kinderzeichnungen von Panzern und Helikoptern – die EU-Kommissionspräsidentin. Sie näherte ihr Haupt auf denkbar unbefangene Weise jenem des ukrainischen Präsidenten. Beider Vertrautheit schien mir ein Unterpfand: Zwei, die sich so gut riechen können, werden auch sonst miteinander Frieden halten – und einander in Tagen der Not umso bereitwilliger zur Seite stehen.

In den Tagen der Reformära Kreisky bedurfte der "ganz normale Wahnsinn" – so der Titel einer Fernsehserie – noch keiner Maastricht-Verträge. Mit Blick auf die zu tauschenden Zärtlichkeiten verhielt es sich in den 1970ern genau umgekehrt zu heute. Westeuropäer wahrten die Contenance und schüttelten einander die gewissenhaft desinfizierten Hände. Die Führer der Warschauer-Pakt-Staaten hingegen umhalsten einander nach Herzenslust – um schließlich ihre Zungen ungeniert miteinander zu vereinigen.

Ich, ein schüchterner, ein wenig dicklicher Babyboomer, bekam als Kind viel Nachteiliges über die Kommunisten in Osteuropa gesagt. Sie würden Buben wie mir das Spielzeug wegnehmen. Mein Vater hatte ihretwegen hinter dem Ural sogar Kamine bauen müssen. Als Küssende schienen sie mir dagegen vorbildhaft – trotz Kassenbrillen, die groß wie Hirschgeweihe waren.

Hinter Freilassing

Der eigentliche Widersacher saß gleich hinter Freilassing. Einmal im Jahr galt es, dem Bann des heimischen Tabakmonopols zu entfliehen. Verstohlen übertrat mein Vater mehrmals die Grenze zur BRD, um seine geliebten Zigarren zu importieren. Mürrisch musterte der Zöllner Fahrer und Reisepass: Kein einziges liebes Wort hatte er für den paffenden Schmuggler übrig, nicht einmal ein Küsschen warf er ihm zu.

Wenigstens musste ihm mein Vater keinen Ofen bauen. (Ronald Pohl, 12.6.2024)