Von den vielen Kleidungsstücken, die in die Umkleide mitgenommen werden, landen nicht wenige wieder auf dem Kleiderhaken. Wieso bloß?
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Ich sehe ihn auf dem Bügel hängen und weiß sofort: Den Faltenrock muss ich haben. Ich schnappe ihn mir in meiner Größe und stehe schon in der Kabine. Wenige Minuten später ist die gute Laune verflogen. Der graue Vorhang lässt sich nicht ordentlich zuziehen, die Beleuchtung macht mich blass, ein Blick in die drei beweglichen Spiegel und es schreit mir von allen Seiten entgegen: Das passt nicht zu dir! Entnervt schäle ich mich aus dem Kleidungsstück. Die Umkleidekabine und den Store in der Wiener Innenstadt verlasse ich fluchtartig.

So ist es mir immer wieder ergangen. Mal lässt sich eine Umkleide nicht richtig schließen, ein andermal verdirbt die Lichtstimmung den Spaß am Umziehen. Ganz zu schweigen von Staubflocken in den Ecken, herausgerissenen Aufhängern oder sonstigen Hinterlassenschaften in der Kabine. Wenn ich mich in einem Geschäft gegen ein Kleidungsstück entscheide, dann hinter dem Vorhang in der Umkleidekabine. Ich nenne sie gern den Ort des Schreckens.

Mit meinen Erfahrungen stehe ich nicht allein da. 2017 stellte das Forschungsinstitut Innofakt in einer Studie im Auftrag des Lichtspezialisten Ansorg fest, dass etwa 40 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten in Deutschland Modegeschäfte ohne Kauf verlassen, weil ihnen die Umkleidekabinen nicht zusagen. Nicht nur das. Über 70 Prozent beklagten die mangelhafte Ausstattung der Kabinen.

Den Unternehmen ist mittlerweile bewusst, wie wichtig die wenigen Quadratmeter hinter dem Vorhang für die Kaufentscheidung sind. "Es hat sich viel getan in Sachen Umkleidekabine", erklärt Andreas Steinle, Geschäftsführer von Zukunftsinstitut Workshop in Frankfurt am Main. Allerdings verfolgten Händler unterschiedliche Strategien. So gehe es den Fast-Fashion-Retailern "um den schnellen Umschlag" und darum, den Aufenthalt der Kundschaft zu verkürzen. "Es wird mit kaltem weißen Licht gearbeitet, um den Durchlauf zu erhöhen. Das Rabattschild ist das stärkere Kaufargument als der Wohlfühlcharakter der Umkleidekabine." Viele probierten die Ware überhaupt erst nach dem Kauf zu Hause an.

Nachvollziehen kann ich diese Strategie nur bedingt: Was hat ein Fast-Fashion-Retailer davon, wenn ich mich unwohl fühle und mich gegen den Kauf entscheide?

Safe Space zu Hause

Gleichzeitig fühle ich mich ertappt: Habe ich die Umkleidevermeidungsstrategie nicht mittlerweile perfektioniert? Ich bestelle Kleidungsstücke und probiere sie regelmäßig zu Hause, in meinem Safe Space. Dort scheint es der Spiegel besser mit mir zu meinen. Aber vielleicht sollte ich dem Handel häufiger eine Chance geben. Steinle sagt nämlich auch: "Die Kundenorientierung hat deutlich zugenommen, für viele Unternehmen steht der Wohlfühlfaktor mittlerweile mehr im Vordergrund." Zugegebenermaßen bin auch ich schon vor Spiegeln gestanden, die den Kleiderkauf zu einem Vergnügen gemacht haben.

Manche Umkleidekabinen schinden sogar Eindruck. Eine Kollegin erzählt begeistert von einem Exemplar bei Victoria's Secret, das sie während ihres letzten New-York-Aufenthalts vor wenigen Wochen getestet hat. Die Kabine? Ein kleiner Raum mit verschließbarer Tür: "Darin ist ein Tablet angebracht, auf dem sofort die Items erschienen sind, die ich zum Probieren mitgenommen habe." Der Gedanke an die Datenerfassung habe bei ihr zwar ein mulmiges Gefühl hinterlassen, erklärt die Kollegin. Der Service aber habe überzeugt: Auf dem Tablet können alternative Größen oder Farben ausgewählt werden, die vom Verkaufspersonal zur Kabine gebracht werden. Wenige Handgriffe ersparen etliche Meter zwischen der Kabine und den Kleiderstangen im Geschäft.

Steinle, der Mann vom Zukunftsinstitut Workshop, hat ebenfalls einige zeitgemäße Beispiele aus dem Handel parat. Bei der Kette Bonprix in Hamburg wird mit einer individuellen Lichtsteuerung gearbeitet, wie bei Victoria's Secret können über eine App Kleidungsstücke aus dem Store in die Kabine bestellt werden. Das Unternehmen Nordstrom in New York wiederum verzichtet bewusst auf Bildschirme und Technik – hier sehen Umkleidekabinen wie Wohnzimmer aus. In höherpreisigen Stores wird aus guten Gründen viel ausgetestet. "In der Umkleidekabine werden nicht nur Kaufentscheidungen gefällt, sondern auch Kaufmotivation erzeugt. Deshalb sollte die Umkleidekabine nicht als isolierter Bestandteil ins hinterste Eck verfrachtet werden, sondern zu einem einladenden, zentralen Bestandteil des Ladens werden", meint Steinle. Man könnte auch sagen: Hier werden die Umsätze gemacht.

Schneller Umschlag

Nachfrage bei Julia Mitteregger, die bei dem in Amstetten sitzenden Unternehmen Umdasch Store Makers die Designabteilung leitet: Wie steht es im Jahr 2024 um die Umkleidekabine? Sie sei längst in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, bestätigt die Designerin. Das sei anders gewesen, "früher war sie Mittel zum Zweck". Abzulesen war das an ihrer Platzierung: Oft sei die Umkleide ins hinterste Eck des Stores verbannt worden, meint Mitteregger.

Das können sich viele Hersteller nicht mehr leisten. "Die Umkleide hat sich von der sterilen, weißen kleinen Kabine hin zum hochtechnologischen, atmosphärischen Markenraum mit perfekter Social-Media-Kulisse entwickelt", erklärt die Designerin. Was derzeit für die Auftraggeber bei der Gestaltung von Umkleidekabinen im Fokus steht? Der wichtigste Faktor in der Umkleidekabine sei das Wohlbefinden beim Probierprozess, sagt Mitteregger und listet auf, was heute von ambitionierten Unternehmen alles installiert wird: interaktive Spiegel, die verschiedene Lichtverhältnisse simulieren können, die Integration von RFID-Technologie zur automatischen Identifikation von Kleidungsstücken, Touchscreens, über die eine Mitarbeiterin zu Rat gerufen werden könne, Sitzmöglichkeiten, Handyaufladestationen, Barbereiche für die Verköstigung während der Anprobe.

Das klingt alles zu gut, um wahr zu sein – offenbar war ich bislang nicht in den richtigen Geschäften unterwegs.

In speziellen Filialen lassen selbst die Fast-Fashion-Ketten die Muskeln spielen: Im Flagship-Store von H&M am Paseo de Gracia in Barcelona beispielsweise kommt man ganz den Wünschen der Jüngeren entgegen. In verspiegelten, interaktiven Umkleiden können bis zu vier Personen via Smartphone eine individuelle Atmosphäre kreieren – inklusive Lichteffekten und Musik – und dann auf Social Media teilen. Dass die Rechnung des schwedischen Fast-Fashion-Giganten in diesem Fall aufgegangen ist, beweisen Videos auf Tiktok.

Bei diesem Versuch wird es sich wahrscheinlich um eine vergängliche Spielerei handeln. Aber ja, gegen eine Umkleide mit angeschlossener Bar hätte ich nichts einzuwenden. Ich werde meine Einkaufsdestinationen noch einmal überdenken. (Anne Feldkamp, 11.6.2024)