Porträt der Bonnies, pinke Haare und runde Brille mit goldenem Rahmen
Die Bonnies (24) haben eine dissoziative Identitätsstörung und damit viele Identitäten. Teilen müssen sie sich nur zwei Dinge: den Körper und die Lebenszeit.
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Mehrere innere Stimmen gleichzeitig, Gedächtnislücken bis hin zu Blackouts und diese unendliche Schwere im Alltag – dass bei ihr etwas anders ist als bei anderen, ist Bonnie schon immer klar. Als sie mit 18 in einer Traumaklinik behandelt wird, bekommt sie die Diagnose und damit einen Namen für das bis dahin Unerklärliche: Bonnie (24) hat eine dissoziative Identitätsstörung (DIS), früher nannte man das auch multiple Persönlichkeitsstörung. Und seitdem weiß Bonnie: Sie ist viele.

Eine DIS ist eine komplexe Reaktion auf schwere Kindheitstraumata und die Folge einer Überlebensmaßnahme der menschlichen Psyche bei Gewalterfahrungen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn der Schmerz so groß ist, dass er für eine Einzelperson nicht mehr tragbar ist, wird das Leid auf mehrere verteilt. Die Bonnies haben früh Gewalt in verschiedensten Formen erlebt: "Alles, was man sich vorstellen kann, und noch mehr. Das alles ging nicht von einem Einzeltäter aus", ist alles, was sie dazu sagen möchten. Wegen Sicherheitsbedenken haben sie die Täter nie zur Rechenschaft gezogen.

Rettung und Leid zugleich

Eine DIS entsteht dabei immer in der frühsten Kindheit, meist vor dem fünften Lebensjahr. "Die DIS ist Rettung und Leid zugleich. Sie macht es erst einmal möglich, das Untragbare zu überleben, macht einem langfristig aber auch das Leben schwer", sagen die Bonnies. Es teilen sich dann mehrere Persönlichkeiten den Körper und übernehmen abwechselnd die Kontrolle darüber. Eine Person kann sich meist nicht daran erinnern, was passiert ist, als eine andere am Steuer war. Und wie oft die Person hinterm Steuer wechselt, ist unterschiedlich. Mal ist wochenlang eine Person "vorn", wie es die Bonnies nennen, mal wechseln sich mehrere Persönlichkeiten innerhalb einer Minute ab.

Die unterschiedlichen Personen können sich in ihrem Alter, ihren Interessen, ihren Fähigkeiten und ihrem Namen unterscheiden. Dabei kann der Name auch eine Nummer sein. Die 46 ist im Alltag am häufigsten im Körper der Bonnies und seit zwei Jahren verheiratet, Isa spielt gerne Klavier, und die kleine Tessa will ständig spielen und naschen.

Sogar die Handschrift der Bonnies unterscheidet sich, je nachdem, wer gerade vorn ist. Denn auch der Körper kann auf die Dominanz der einzelnen Persönlichkeiten reagieren, die Bonnies merken das vor allem bei der Sehstärke. Bei einem Augenarzttermin wurden sie direkt wieder nach Hause geschickt. Alles in Ordnung, perfekte Sehkraft, hieß es. Nur eine Woche später diagnostizierte ein anderer Arzt ein Sehvermögen von nur 30 Prozent. "Wie haben Sie denn überhaupt in die Praxis gefunden?", hatte er gefragt. Heute haben die Bonnies zusätzlich zur Brille deshalb auch mehrere Paare Kontaktlinsen in verschiedenen Stärken, wenn einmal eine Person mit anderer Sehstärke vorn ist.

In der Forschung ist dieses Phänomen gut messbar. Eine Person kann etwa eine Allergie haben, eine andere Person im selben Körper nicht. Auch unterschiedliche Blutzuckerspiegel wurden bei Wechseln von einer Persönlichkeit zur nächsten beobachtet. Teilen müssen sich die Personen nur zwei Dinge: den Körper und die Lebenszeit.

Bonnie als Teamname

Manche von ihnen verbringen dabei mehr Zeit im Körper als andere. "Dennoch sind wir nicht nur die Anteile einer einzigen Person, sondern wir alle sind jeweils genauso vielschichtig und einzigartig wie alle Menschen", stellen die Bonnies klar. Die eine Bonnie gibt es also nicht. Bonnie ist quasi eine Art Teamname für alle Persönlichkeiten. Der Körper heißt so und der Name steht auf Ausweisen, "aber keine von uns heißt tatsächlich so", erklären die Bonnies bzw. erklärt Fiona. Denn sie ist es, die im Interview mit dem STANDARD die Fragen beantwortet. An jenem Tag ist sie die dominante Persönlichkeit in Bonnies Körper. "Ich bin etwas älter als der Körper und seit einigen Jahren auch regelmäßig im Alltag vorn", erzählt sie. Früher war Fiona ausschließlich in Situationen, wenn gerade ein Trauma passierte, im Körper. "Andere Situationen kannte ich nicht und musste mich im Alltag ganz neu zurechtfinden. Es ist aber nicht nur herausfordernd, sondern auch sehr schön, dieses Leben kennenzulernen", findet sie.

Am Morgen des Interviews hatte noch jemand anderes das Sagen. Wann und wie die Wechsel stattfinden, kann Fiona nicht beantworten. Sie hat kein Zeitgefühl. Sie weiß aber, dass 46 den Morgen mit ihrer Frau verbracht hat. "Und dann war zwischendurch auch noch Tessa da. Von dieser Zeit habe ich nichts mitbekommen, aber die Info kam bei mir an", sagt Fiona.

Aber wie kam diese Information bei ihr an? Die meisten Persönlichkeiten können sich schließlich nur an das erinnern, was sie selbst erleben, während sie im Körper sind. Nur die wenigsten können von innen heraus mithören oder sich in der Innenwelt unterhalten und Informationen austauschen. Das geht nur sehr begrenzt und nicht mit allen. Die Bonnies versuchen deshalb, so viel wie möglich aufzuschreiben. "Wir haben ein Tagebuch, das fast immer bei uns ist und für alle zugänglich", berichtet Fiona. Meistens funktioniert es so ganz gut, dass zumindest wichtige Termine oder Aufgaben dort eingetragen werden. Und wenn doch nicht, sind den Bonnies nahestehende Personen ein großer Anker für sie: "Sie können verängstigten Personen helfen, sich zu orientieren, oder auch wichtige Informationen, anstehende Termine und Entscheidungen mit uns tragen und zwischen uns vermitteln."

Ehefrau und gute Freundin

Trotzdem kennen nicht alle die Ehefrau von 46 oder wissen überhaupt davon, dass es sie gibt – vor allem jene, die im Alltag nicht häufig nach vorn treten. Aber die, die regelmäßig Zeit im Körper verbringen, wussten Bescheid und wurden in die Entscheidung zur Heirat auch miteingebunden. "Wir hätten diese Entscheidung nicht getroffen, wenn wir uns nicht alle einig wären", erklärt Fiona. Die meisten Entscheidungen könnten aber ohnehin nur sehr begrenzt gemeinschaftlich getroffen werden. "Man kann es nie allen recht machen."

Bei der Hochzeit waren sich aber alle Personen, die regelmäßig im Alltag im Körper sind, einig. Denn auch wenn die Ehefrau nur mit einer Person in einer Liebesbeziehung ist, haben alle anderen auch eine tiefe Bindung zu ihr. Was für 46 die Ehefrau ist, ist für Fiona, Isa oder Tessa eben eine sehr gute Freundin. "Und wenn jemand nach vorn kommt und das erste Mal unsere Frau sieht, dann ist sie da, um zu erklären, wer sie ist und in welchem Verhältnis wir stehen", erzählt Fiona.

Skepsis von außen

Die Bonnies haben sich mit der Diagnose mittlerweile gut arrangiert. Aber diese Störung ist und bleibt "eine Folge von Traumata und ist alles andere als eine spaßige WG im Kopf oder eine Superkraft. Die DIS ist eine Traumafolgestörung, die sich nur entwickelte, weil die Psyche keinen anderen Weg sah, um zu überleben", stellt Fiona klar. Dementsprechend schmerzhaft war auch die Diagnose für manche der Bonnies. "Es gibt Personen, die die Diagnose bis heute leugnen, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal wussten, dass uns jemals etwas Schlimmes passiert war. Sie konnten die Tatsache, dass ihr Leben zur Hälfte aus Gewalt bestand, ohne dass sie es bemerkt hatten, nicht annehmen." Einige andere waren erleichtert, die offizielle Diagnose zu haben und so an den ihr zugrundeliegenden Traumata zu arbeiten.

Im Umgang mit anderen Personen brachte die Diagnose aber auch viel Skepsis mit sich. Die meisten können damit wenig anfangen, für viele ist das Krankheitsbild ungreifbar. Absolut legitim, finden die Bonnies: "Schließlich können wir uns auch nicht vorstellen, wie es ist, seinen Körper und seine Lebenszeit für sich zu haben." Auf dem Instagram-Account @diebonnies informieren sie über ihr Leben mit einer DIS und klären auf. Kürzlich ist auch ihr Buch "Eine Bonnie kommt niemals allein" erschienen.

Buchcover:
In "Eine Bonnie kommt niemals allein" geben verschiedene Persönlichkeiten der Bonnies intime Einblicke in ihre Erfahrungen und Gedanken. € 16,50 / 256 Seiten, Penguin-Random-House-Verlagsgruppe.
Heyne

Nie genug Zeit für Therapie

Aber auch wenn die Bonnies den Alltag gut meistern, bleibt das Leben mit der DIS eine Herausforderung. Angst und Panik sind treue Begleiter. Die Bonnies können jederzeit auf einen Trigger stoßen, der alte Wunden aufreißt: "Die alltäglichsten Dinge wie Einkaufen sind für uns eine riesige Herausforderung und ein Kraftakt."

Und eine Sache schmerzt die Bonnies ganz besonders: das Wissen, niemals allen Persönlichkeiten gerecht werden zu können. "Unsere Lebenszeit wird nicht ausreichen, um alle Traumata zu bearbeiten. Es wird immer Personen im Innen geben, die nie etwas anderes als das Grausame erleben dürfen", erzählt Fiona. Es wird nie genug Therapiezeit für alle bleiben. Darum versuchen die Bonnies, einen Weg zu finden, um trotz – oder mit – den vielen Traumata ein schönes Leben zu führen: "Wir arbeiten an einem Leben mit genug positivem Gegengewicht, das es uns ermöglicht, all den Rest, der uns für immer begleiten wird, aushalten zu können." (Magdalena Pötsch, 11.6.2024)