Vier Darsteller im Gespräch, das Publikum sitzt rundherum:"Memory of Mankind".
Festwochen / Navid Fayaz

Wenn die Welt untergeht, ist das Jugendstiltheater am Steinhof nicht der ideale Ort, um dort zu sein. Bei der Premiere von Memory of Mankind am Donnerstag tropfte es beim ärgsten Regenguss etwas durchs Dach. Das verlieh dem Thema des Abends aber nur noch etwas mehr Dringlichkeit: Wie speichern und sichern wir unsere Daten für nachfolgende Generationen, ach was, Zivilisationen?!

Es wäre dem Bau insofern gerade jetzt zu wünschen, dass er dicht hält, denn temporär logiert darin das Gedächtnis der Welt. Zumindest ein Ausschnitt davon. Digitale Festplatten? Sind zwar Wunderkammern an Speicherraum, aber in zehn Jahren kaputt. Was bleibt dann von unserem sogenannten Informationszeitalter noch? Bedruckte Badezimmerfliesen sind daher das Trägermedium der Wahl. Wem das Konzept bekannt vorkommt: Das gibt es wirklich! Unter demselben Namen und 2012 gestartet vom Österreicher Martin Kunze. Abbildungen von Newtons Gravitationsgesetz, Hundemode oder Gangsta-Rap: Alles Mögliche hat Platz. In einem Salzbergwerk in Hallstatt sollen die Fliesen überdauern.

Vergesslich verliebt

Der in seinen Stücken und Filmen dokumentarisch arbeitende schwedische Autor und Regisseur Marcus Lindeen hat sich nicht nur von Kunze (gespielt von Jean-Philippe Uzan) inspirieren lassen. In drei Strängen zwirbelt er Fragen um Erinnern, Geschichte, Geschichtsschreibung auf kollektiver und persönlicher Ebene ineinander. Ein Forscher hat sich seinerseits in die queere Geschichtsschreibung gestürzt. Dargestellt wird dieser von Axel Ravier, einem jungen französischen Soziologen, der wirklich im Bereich schwuler Beziehungen arbeitet. Seine Hypothese: Queere Historie besteht vielfach aus Lücken, und wenn es doch Zeugnisse gibt, wurden sie oft gezielt missinterpretiert, um sie unsichtbar zu machen. Er stützt sich dabei auf den real existierenden Ägyptologen Greg Reeder. Ein womöglich schwules Paar aus dem alten Ägypten (Wandzeichnungen!) rufen die beiden als Belege langer queerer Historie auf, sogar als Mutmacher für die Gegenwart.

Seinen eigenen Geschichtsspeicher hat indes ein Liebespaar aufgebaut. Er (Driver) leidet an wiederkehrend auftretender Amnesie: Etwa einmal im Jahr vergisst er alles, läuft dann weg und geht verloren, und wenn sie (Sofia Aouine) ihn wiederfindet, müssen sie sich neu verlieben, einander wieder kennenlernen. Der Lacher des Abends: Jedes Mal schindet sie daraus den Vorteil, ihn mehr zu dem Mann zu formen, den sie will, indem sie ihm nur beibringt, was sie mag.

Spannendes Gespräch

Ist das ethisch korrekt? Wer schreibt Geschichte? Hat jemand das Recht, allein zu bestimmen, was erinnerungswürdig ist? Der charmante Abend besteht im Grunde aus einer Diashow mit reichlich Dialog. Das könnte ermüdend sein, tut es aber glücklicherweise eineinhalb Stunden lang nicht. Szenisch sparsam, ist das Gespräch diskursiv extrem klug und in seinen Richtungen überraschend gebaut. Tagebücher depressiver Dinos? Unser Erbe vor dummen Zivilisationen schützen? Das sind spannende Fragen. Möge das Dach die Aufführungsserie durchhalten. (Michael Wurmitzer, 7.6.2024)