Wien – Drei Tage vor der EU-Wahl beschäftigt die Frage des österreichischen Vorschlags für die Europäische Kommission die Koalition. Während Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) auch über diese Personalentscheidung mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen berät, lässt der grüne Vizekanzler Werner Kogler wissen: Ganz alleine entscheide die ÖVP nicht, wen Österreich für den wichtigen Job in Brüssel nominiert.

Ursula Von der Leyen und Karl Nehammer
Kanzler Karl Nehammer und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treffen einander am Freitag in Wien.
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Von der Tiroler Tageszeitung wurde Kogler nämlich auf den türkis-grünen Sideletter angesprochen. Die Vereinbarung zwischen den Parteien war ursprünglich geheim, wurde aber später geleakt. Darin ist festgehalten, dass die Volkspartei entscheidet, wer EU-Kommissarin oder EU-Kommissar wird. Allerdings sagt Kogler nun: "Der Sideletter ist obsolet, weil er unter anderen Voraussetzungen entstanden ist." Der Hauptausschuss des Nationalrats entscheide über die Besetzung. Dort hat Türkis-Grün eine Mehrheit und müsste sich einig werden – wenn die Koalition nicht zu Bruch gehen soll.

Tatsächlich entscheiden die Mitglieder des Hauptausschusses in der Theorie völlig frei, wen sie als EU-Kommissarin oder EU-Kommissar nominieren. Faktisch sind die Abgeordneten im Ausschuss wie sonst auch an die Koalitionsvereinbarung zwischen ÖVP und Grünen gebunden. Die beiden Parteien haben vereinbart, im Parlament stets gemeinsam abzustimmen. Dazu sind Verhandlungen im Vorfeld nötig, die sich gerade bei Personalentscheidungen oft lange gezogen haben.

Koglers Einwand, dass der Sideletter seit seiner Veröffentlichung hinfällig sei, zielt also nur auf eine deutlichere Mitsprache der Grünen ab: "Es gibt kein Naturgesetz, dass das Vorschlagsrecht eine Partei hat und die ÖVP den EU-Kommissar besetzt", sagte der Vizekanzler zur Tiroler Tageszeitung.

Theorie und Praxis

Was in der Theorie stimmt, könnte in der Praxis schwierig werden. Denn dass die Volkspartei einer grünen Kandidatin – eine Zeitlang wurde Klimaministerin Leonore Gewessler als Interessentin für den Job kolportiert – zustimmt, kann als ausgeschlossen betrachtet werden. Der von den Neos ins Spiel gebrachte Ex-ÖVP-Mandatar Othmar Karas hat mit seiner Partei mittlerweile so letztgültig gebrochen, dass die Volkspartei eine Nominierung ebenfalls nicht als Sieg verbuchen könnte.

Eine Person ohne Parteibuch würde zwar als Kompromiss funktionieren, falls sich die Kanzlerpartei nicht mit jemandem aus ihrem Stall durchsetzen kann. Allerdings gibt es in Österreich kaum Personen außerhalb der Parteien, die sich für die Funktion eignen würden.

"Szenarien nach der Wahl"

Auch wegen dieser Spekulationen wird der Besuch von der Leyens in Wien mit Interesse verfolgt: Sie trifft – nicht medienöffentlich – auf den Kanzler. "Es ist üblich, dass wir uns hier auch absprechen betreffend die Wahlen. Und die daraus resultierenden möglichen Szenarien, die sich nach den Wahlen ergeben", bestätigte Nehammer am Mittwoch nach dem Ministerrat einen Bericht der Presse.

Aus Nehammers Aussage lässt sich heraushören, dass es in dem Gespräch auch um von der Leyens Wahl gehen kann. Denn die Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei braucht die Unterstützung konservativer Länder wie Österreich.

Türkise Minister in der Ziehung

Nehammer wird aber wohl mit von der Leyen auch besprechen, wen Österreich nach Brüssel schickt. Vonseiten der ÖVP werden dafür immer wieder drei aktuelle Regierungsmitglieder genannt: Finanzminister Magnus Brunner, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und Außenminister Alexander Schallenberg. Von der Entscheidung über die Person hängt allerdings auch ab, welches Ressort Österreich zufällt – und umgekehrt.

Fix gesetzt ist freilich keiner der Genannten. Denn erstens ist aktuell unklar, wie sich die Grünen in dem Nominierungsprozess verhalten. Zweitens kann das Wahlergebnis am Sonntag innenpolitische Umwälzungen mitsamt personellen Auswirkungen zur Folge haben. Und drittens ist auch von der Leyens Wahl zur Kommissionspräsidentin keineswegs fix. (Sebastian Fellner, 7.6.2024)