Das 37 Minuten lange Video der FPÖ hat es in sich: eine kohärente Erzählung zur politischen Geschichte Österreichs, zu aktuellen Krisen und Ängsten und zu einer imaginierten Zukunft Österreich. Sie basiert auf der Behauptung einer Weltverschwörung.

Neu ist nicht, dass die FPÖ Verschwörungsmythen vertritt – das kennen wir seit vielen Jahren. Neu ist, in welcher Offenheit, Breite und Vehemenz eine weltweite Verschwörung behauptet wird. Angesichts der breiten Zustimmung zur FPÖ und getragen von einem Rechtsruck in Europa glaubt Parteichef Herbert Kickl, diese Geschichte direkt erzählen zu können – liegt hier etwa ein Schlüssel zum aktuellen Erfolg der FPÖ?

FPÖ-Chef Herbert Kickl bei einer Rede
Hat seine ganz eigene Erzählung zur politischen Geschichte Österreichs: FPÖ-Chef Herbert Kickl.
Foto: AFP/ALEX HALADA

Eine Verschwörungsgeschichte in neun Teilen:

1. Weltweit existiert "das System": ein Gebilde, das als Einheit beschrieben wird. Es wird kontrolliert von "Strippenziehern im Hintergrund". Das sind "die Globalisten", eine geschlossene Gruppe mit einer einzigen (linken) Ideologie. Welche Personen dieser Zentrale angehören, erfährt man nicht. Man sieht aber Bilder von politisch und wirtschaftlich Mächtigen wie Ursula von der Leyen, Bill Gates, Wladimir Putin, dem "Austrooligarchen" Hans Peter Haselsteiner oder Klaus Schwab, dem Vorsitzenden des Weltwirtschaftsforums.

2. Dieses Zentrum beherrscht die Welt mit seinen Werten und Zielen. Es dirigiert "globalistisch ausgerichtete Organisationen" wie die Weltgesundheitsorganisation. Diese geben die Linie vor – die EU, die Nato oder die Vereinten Nationen setzen sie dann um.

3. Alle Parteien in Österreich (mit Ausnahme der FPÖ) sind dieser globalen Befehlskette unterworfen. ÖVP, SPÖ, die Grünen und die Neos bilden eine "Einheitspartei", es handelt sich um "Systemparteien". Sie "haben sich der globalistischen Agenda untergeordnet" – und zwar freiwillig: "Sie lassen sich gerne zu Marionetten degradieren" und "fühlen sich erleichtert, wenn ihnen [andere] die Verantwortung" abnehmen.

4. Auch die Medien in Österreich folgen den Befehlen "der Globalisten". Sie sind folgerichtig als "Systemmedien" zu bezeichnen. Darunter vor allem der ORF als "Staats- und Regierungsfunk", aber auch manche Privatsender.

5. In diesem "System" existiert nur eine einzige "zulässige Meinung". Die Folge ist eine international gleichgeschaltete "Politik der Alternativlosigkeit". Ihre Begleiterscheinung sind permanente selbstgemachte Krisen, die den Menschen Angst machen. Angst "ist das wesentlichste Machtinstrument der globalistischen Eliten".

6. Solange "die Strippenzieher im Hintergrund" herrschen, droht – so die Conclusio – eine dystopische Zukunft, in der alles nur noch schlimmer wird.

7. Eine solche Politik trifft "das Volk" in seiner Gesamtheit. Auch "das Volk" ist eine homogene Gruppe, der Gegenspieler zur homogenen Gruppe "der Globalisten". "Das Volk" ist somit ein Opfer "der Globalisten".

8. Nur die FPÖ ist in der Lage, diese gigantische Weltverschwörung zu erkennen und zu bekämpfen: "Wir haben den Kampf gegen das System längst aufgenommen." Deswegen braucht es einen "Volkskanzler" Kickl "nahe beim Volk, weit weg von den selbsternannten Eliten". Das Motto der Nationalratswahl 2024 ist deshalb "Mit euch gegen das System".

9. Die Alleinstellung der FPÖ macht sie "zum Hassobjekt des Systems und seiner Handlager in Politik, Wirtschaft und Medien. (…) Deshalb führen die globalistischen Eliten den Feldzug [gegen die FPÖ] mit so großer Entschlossenheit."

Eine Erzählung, die alles erklären will. Der Glaube an eine Weltverschwörung ist der erschreckende Kern des Denkens der FPÖ.

Die Vorteile für die Wahlwerbung liegen auf der Hand: Komplexe krisenhafte Entwicklungen werden auf simple Art wie in einem Märchen "erklärt". Ängste werden angesprochen und gelenkt, die Anhängerschaft wird mobilisiert, und eine religiöse Heilserwartung wird erweckt. Vor allem aber kann eine rückwärts gewandte Politik propagiert werden, die von Fakten vollkommen befreit ist. Jedes Sachthema, jede politische Frage verliert ihre empirische Basis. Alles Störende wird als Kampf "des Volkes" gegen "die Globalisten" gedeutet. Künstliche Intelligenz? Transhumanismus? Überwachungsstaat? Genderpolitik? Klimapolitik? Das alles ist "eine logische Folge globalistischer Pläne".

Ängste und Unsicherheiten

Das Wahngebilde der FPÖ funktioniert, weil akut vorhandene Ängste und Unsicherheiten angesprochen werden. Die anderen Parteien scheinen kaum zu verstehen, wie sehr viele Menschen durch den permanenten Krisenmodus erschüttert sind. Die Corona-Pandemie (2020), der Ukrainekrieg (ab 2022), dann die heftige Inflation (ab 2022) und der Krieg im Nahen Osten (ab 2023) haben die Stimmung drastisch verändert, zuletzt mit der Angst vor einem Atomkrieg. Vor allem aber verlangen so viele Ängste nach lösungsorientierten politischen Antworten. Wenn die FPÖ jene Partei ist, die diese Ängste am deutlichsten anspricht und Rettung verspricht, dann wird ihr ein Teil der Bevölkerung folgen – unabhängig davon, welche noch so abenteuerliche "Theorie" sie dabei auftischt.

Eine Weltverschwörung muss als das angesprochen werden, was sie ist: ein fantastisches Lügengebilde mit fatalen Konsequenzen. Sie beendet jede Sachpolitik und ebnet den Weg zu einer Willkürherrschaft. "Machen wir es dem Orbán nach", rief Kickl am 1. Mai 2023. Neuerdings war von "Fahndungslisten" die Rede. Lernen wir kollektiv mehr Geschichte! (Ruth Wodak, Walter Ötsch, 7.6.2024)