Man sieht ein gemaltes Plakat, das unter dem Schriftzug
Im Theatergerichtssaal des Odeon geht ab Freitag um 19.30 Uhr das zweite Wochenende der "Wiener Prozesse" über die Bühne – mit FPÖ-Verteidigerin Frauke Petry und Kronzeuge Julian Hessenthaler.
Wiener Festwochen

Es ist Theater, und auf der Bühne sitzen Frauke Petry und Julian Hessenthaler? Ja, das gibt es. Dokumentarische Theaterformen, die mit "echten Menschen" und deren Perspektiven und Erfahrungen agieren, haben sich seit den 1960er-Jahren diversifiziert. Eine zentrale Vertreterin dieser Schiene ist die Gruppe Rimini Protokoll, die in den 1990er-Jahren den Begriff "Experten des Alltags" eingeführt hat: Gemeint sind Laiendarsteller, die ihr Wissen zu einem Thema einbringen oder es physisch repräsentieren. Auch für Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, ist stets die "Realität" Ausgangspunkt seiner Regiearbeiten.

Der Schweizer Theatermacher orientiert sich nicht (bzw. nur selten) an tradierter Literatur, wie es das Gros der Regieführenden macht, sondern er holt immer die sogenannte Wirklichkeit auf die Bühne. Und es ist immer eine politisch brisante Wirklichkeit, die ihn reizt. Eine, in der es um Völkermord, Wirtschaftskriege, Kolonialismus, Abreibung, Faschismus oder politische Verfolgung geht. Als Produktionsplattform hat er dafür 2007 das International Institute of Political Murder (IIPM) gegründet.

Wiener Festwochen

Innerhalb des Dokumentartheaters hat Rau verschiedene Formate entwickelt. Es waren Reenactments etwa des Strafprozesses gegen das rumänische Diktatoren-Paar (Die letzten Tage der Ceausescus, 2009) oder die Veranschaulichung der Genozid-Propaganda eines ruandischen Senders in Hate Radio (2011). Er ließ die Verteidigungsrede des norwegischen Rechtsextremisten und Massenmörders Anders Breivik von Schauspielern vorlesen. Als Direktor des NT Gent verfrachtete er sein Ensemble kurzerhand in den Irak, um dort unter der riskanten Beteiligung Ortsansässiger Orest in Mossul zu spielen; die als Film distribuierte Arbeit führt den blutigen Teufelskreis der Rache vor (anknüpfend an den Umgang der Bevölkerung mit den IS-Killern). Ähnlich auch Das Kongo Tribunal (2015).

Diese Formate sind teils umstritten, weil beim künstlerischen "Verarzten der Welt" auch nicht immer alles so toll sowie unspekulativ abläuft und weil es herbei selbst zu neokolonialistischen Gesten kommen kann. Und weil man Rau im Hinblick auf seine brisanten politischen Sujets auch ein aufmerksamkeitssteigerndes Kalkül unterstellt. Rau ist das gewöhnt, er pariert die Vorwürfe von jeher mit Gelassenheit.

Schauprozesse

Auch das "Prozess"-Format, das Rau nach den Moskauer Prozessen (Reenactment der staatlich-kirchlich gesteuerten Schauprozesse gegen Pussy Riot u. a. mit den real betroffenen Personen) und den Zürcher Prozessen nun in Wien lanciert, hat dank seiner prominenten Beteiligten einen enormen Publicity-Effekt. Man kann jetzt schon sagen, dass dem neuen Intendanten mit den Wiener Prozessen ein Coup gelingen wird. Dieses Reality-Format knallt dem Publikum die neuralgischen Themen der letzten Zeit noch einmal in aller Präzision vor den Latz.

Zu sehen ist eine Gerichtssituation mit Richterbank, Anklage, Zeugen und Verteidiger vor dokumentierender Leinwand.
"Wiener Prozesse", die Gerichtsshow der Wiener Festwochen, verhandelte beim ersten Wochenende im Odeon das Thema Corona.
Festwochen / Ines Bacher

Ab diesem Freitag – pünktlich vor der EU-Wahl – findet sich die FPÖ drei Tage lang auf der Anklagebank im Odeon: vor Richterin Barbara Helige, verteidigt von der ehemaligen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry, als Kronzeuge ist Ibiza-Video-Macher Julian Hessenthaler geladen. Weiters im Zeugenstand: Ursula Stenzel, Hans Rauscher, Alexis Pascuttini, Ruşen Timur Aksak, Natascha Strobl und viele andere.

Veränderung bewirken

Das Publikum aktiv zu involvieren – hierin ist Rau ein Meister seines Faches. Denn Ziel seines Theaters ist es, einen politischen Raum zu kreieren, in dem verhandelt wird und in dem die Realität als veränderbar wahrgenommen wird. Das schließt unbedingt mit ein, dass hier Menschen zusammenkommen sollen, die sich eben gerade nicht ganz geheuer sind. Omri Boehm und Ariel Muzicant – das sollte sich in einer informierten, aufgeklärten Gesellschaft nebeneinander ausgehen. Dabei geht es Rau darum, nachzulesen in seinem Essay Die Rückeroberung der Zukunft, dass diese Projekte nicht "eine ohnehin interessierte Minderheit, sondern eine Mehrheit" involvieren, "die der Sache bislang grundsätzlich interesselos bis ablehnend gegenübersteht".

Rau gehört damit zu einer Reihe von Theatermachern, die immer wieder auf spektakuläre Weise auf Konfrontationskurs mit dem Publikum gehen. Auch Christoph Schlingensief ließ anno 2000 die Bevölkerung im Ausländer raus!-Container über Abschiebungen abstimmen. 2001 holte er in seiner Zürcher Hamlet-Inszenierung Rechtsradikale auf die Bühne, die aus der Szene aussteigen wollten. Skandale sind hier miteinkalkuliert. Bei Milo Rau muss die Kunst aber nachweislich eine reale Veränderung in Gang setzen, manchmal hat er das auch schon geschafft (Gesetzesänderung nach Das Kongo Tribunal). (Margarete Affenzeller, 7.6.2024)