In den Ruinen der Häuser wachsen junge Bäume, die verwilderten Rosen in den Gärten stellen in dieser Gegend der Zerstörung die einzige Pause für das Auge dar. Die Ortschaft in der Oblast Donezk, deren Name zum Schutz der Soldaten nicht genannt werden soll, befindet sich nahe der Front. Und wenngleich sich keine Straßenschlachten abspielten, fühle sich niemand sicher, sagt Konstantin Rybaruk. "Die einzige Stabilität hier ist der Krieg", so der 30-jährige Soldat, Bart, dunkle Schatten unter den Augen.

Noch vor wenigen Stunden hat er in den nahegelegenen Positionen seines vierköpfigen Mörsertrupps ausgeharrt. Nun führt er in Schlapfen, kurzen Hosen und T-Shirt mit Militärprint durch die Räume der vorübergehenden Unterkunft. Die Männer der Bureviy-Brigade erholen sich in einem von seinen Besitzern verlassenen Wohnhaus mit kitschigen Tapeten und Regalen voller Einweckgläser. In der Küche rumoren die Waschmaschine und der Wasserkocher für den Tee, während draußen die Artillerie donnert.

Mountainbike als Erinnerung

Rybaruk will das Gespräch an diesem sommerlich-warmen Tag lieber draußen führen und lädt auf die Terrasse, wo unter einem Tarnnetz Gartenmöbel und ein Holztisch stehen. Weiter hinten lehnt an einem Schuppen sein wichtigster Besitz: ein in die Jahre gekommenes, blaues Mountainbike. Immer wieder aufs Neue erinnert es ihn daran, dass es ein Leben ohne die Kämpfe gibt und irgendwann vielleicht wieder geben wird.

Vor dem Beginn der russischen Vollinvasion, in seinem zivilen Leben, hat Radprofi Rybaruk in seiner Heimatstadt Tscherkassy in der Zentralukraine den Nachwuchs trainiert. 2016 nahm er an Wettkämpfen in Frankreich und Italien teil, ein Jahr später war er in Norwegen. Rybaruk gerät ins Schwärmen, wenn er daran zurückdenkt. "Ein Fehler kann dich ein Rennen kosten, ein Rennen wiederum kann aus zehn Runden bestehen, und in jeder Runde musst du fünfzig Kurven meistern", erinnert er sich. Wie viele Runden er in diesem Krieg bereits zurückgelegt hat, weiß niemand.

Seit mehr als zwei Jahren kämpft Rybaruk bereits an der Front – zunächst nördlich von Kiew, seit einem halben Jahr im Donbass. Vor acht Monaten ist sein Sohn auf die Welt gekommen, seither hat er bloß zwölf Tage mit ihm verbracht. "Wenn ich 23 Jahre alt wäre und keine Familie hätte, würde ich sagen, das hier ist eine Art Disneyland für einen Soldaten. Wenn du deinen Job liebst, fühlst du dich hier in Hochstimmung", sagt er. "Aber wenn man eine Familie hat, kommt man ins Nachdenken."

Uniformierte tanzen, ein Mann spielt Gitarre.
Ein wenig Ablenkung im Kriegsalltag: ein Konzert von Soldaten für Soldaten.
Dzvinka Pinchuk

Von einem Tag zum nächsten

Die Verzögerungen bei den Waffenlieferungen in den vergangenen Monaten haben sich auch auf die Arbeit von Rybaruk ausgewirkt. Als Kommandant seines Trupps muss er dafür sorgen, dass der Mörser in die richtige Richtung schießt. "Es gab Momente, da hatten wir keine Munition", sagt er. Mittlerweile habe sich die Versorgungslage verbessert. Doch noch immer rückten zu wenige Soldaten nach. Rybaruk findet, dass sowohl die Militärzentren als auch die Politik große Fehler gemacht hätten. "Am 24. Februar 2022 standen die Leute vor den Zentren Schlange und wurden wieder nach Hause geschickt, jetzt will niemand mehr kämpfen. Deshalb wird es keine Demobilisierung geben." Er macht eine Pause. "In Wirklichkeit ist der Feind stärker. Sie sind uns in allem überlegen. Wir sind immer in der Defensive."

Wieder einmal befindet sich der Krieg gegen die Ukraine in einer entscheidenden Phase. Ende Mai kam die aus ukrainischer Sicht lang erhoffte Haltungsänderung: Viele Länder stimmten dem Einsatz westlicher Waffensysteme für Ziele in Russland zur Verteidigung von Charkiw zu. Den jüngsten Kurswechsel haben die europäischen Partner angestoßen, allen voran Frankreich. Den Unterschied dürfte nun das Einlenken der USA machen. Bereits wenige Tage nach der Ankündigung tauchten in den sozialen Medien erste Fotos und Videos von angeblichen Treffern auf russischem Gebiet auf.

"Ein messbarer Erfolg wäre, wenn es nächste Woche etwa nicht zu einer neuen Offensive kommt", sagt Militärexperte Markus Reisner. "Hinzu kommt allerdings, dass die gleichen Waffensysteme, die vor Monaten noch sehr erfolgreich waren, Himars-Raketenwerfer etwa, jetzt nicht mehr diese hohe Erfolgsrate aufweisen, weil die Russen erkannt haben, wie sie diese Systeme stören können."

Der Faktor Zeit

Durch die Eskalation in der Region Charkiw, wo die russischen Truppen zuletzt einige Dörfer eingenommen haben, hat Russland den militärischen Druck weiter erhöht. Das Gleiche könnte in den nächsten Wochen auch in der Oblast Sumy nördlich von Kiew passieren, die ebenfalls eine Grenze mit Russland teilt. Eine der wichtigsten Schlachten findet allerdings nach wie vor im Donbass statt: Eine Einnahme der Stadt Tschassiw Jar bei Bachmut würde den russischen Truppen Vorstöße in verschiedene Richtungen ermöglichen – und bedeuten, dass nahegelegene Städte wie Kostjantyniwka, Kramatorsk und Slowjansk an die vorderste Front rücken.

An ihrem freien Tag versammeln sich Konstantin Rybaruk und zwei Dutzend weitere Soldaten in der Oblast Donezk in einem benachbarten Haus. An diesem Tag soll ein Konzert die Stimmung heben. In Hufeisenform setzen sich die Männer auf die alten Couchen. Manche von ihnen wirken müde, einige starren apathisch auf den Betonboden. Die fehlende Perspektive, dass kein Ende ihres Einsatzes in Sicht ist, nagt an allen.

Ein Soldat spielt auf einer Gitarre, mehrere Soldaten sitzen im Kreis.
Remez spielt auch traurige Lieder für die Kämpfenden.
Dzvinka Pinchuk

Gefühle zulassen

Mit einem Tourbus kommen die Mitglieder der sogenannten Kulturkräfte (Cultural Forces) an. In ihnen vereint sind Künstler, von denen selbst viele Kampferfahrung haben und die Konzerte und Kulturabende für die Brigaden im Einsatz organisieren. Inmitten der sitzenden Soldaten baut sich Oleksandr Remez auf, der vor dem Krieg hauptberuflich Musiker war und im Donbass durch eine Mine verletzt wurde. Er nimmt seine akustische Gitarre in die Hand und singt Lieder von der Liebe und gefallenen Kameraden.

"Unser Ziel ist es, dass die Soldaten ihre Gefühle zulassen, deshalb spielen wir auch traurige Lieder", sagt der 39-jährige Remez. Gerade als sich die Stimmung der Anwesenden nach dem Konzert etwas gelockert hat und man sich vor dem Haus unterhält und raucht, gibt es einen Kilometer entfernt einen Einschlag, vermutlich eine Gleitbombe. "Auf den Boden", ruft einer der Männer, während die Soldaten in Deckung gehen, zu ihren Autos rennen und innerhalb weniger Sekunden in verschiedene Richtungen davonfahren. Im Hintergrund steigt über einem Wohnhaus Rauch auf. Für Verabschiedungen bleibt keine Zeit. (Daniela Prugger aus der Oblast Donezk, 6.6.2024)