Nigel Farage (rechts) und Richard Tice stoßen auf die Wahlkampagne an.
EPA/TOLGA AKMEN

An diesem Dienstag, genau einen Monat vor dem Wahltermin, erlangte das Küstenstädtchen Clacton nordöstlich von London ungeahnte Aufmerksamkeit: Vor Dutzenden von Kameras und Mikrofonen eröffnete der Nationalpopulist Nigel Farage seine Kampagne für das örtliche Unterhausmandat. Schon tags zuvor hatten die britischen Medien an den Lippen des 60-Jährigen gehangen, als dieser seinen erst zehn Tage alten Rückzug aus der Politik revidierte und erneut den Vorsitz der Rechts-außen-Partei Reform UK übernahm.

Warum die Aufregung? Weil der bisherige Wahlkampf zwischen den Konservativen von Premierminister Rishi Sunak und der Labour-Party unter Keir Starmer "so langweilig war wie noch nie", wie der stets zu Superlativen à la Donald Trump neigende Farage mitteilte. Deshalb habe er sich entschlossen, seine Meinung zu ändern: "Das ist nämlich nicht immer ein Zeichen von Schwäche." Die Erklärung war notwendig, weil Farage bisher seine achte Kandidatur fürs Unterhaus strikt abgelehnt hatte. Sein Wahlvehikel Reform UK werde auch ohne ihn zur "Vernichtung der Konservativen, diesem Haufen von Scharlatanen", beitragen. Er wolle sich auf den US-Urnengang im November konzentrieren und für seinen Spießgesellen Trump Werbung machen.

Entscheidung im Pub

Freilich gerieten die gemeinsamen Wahlkampfauftritte mit dem bisherigen Reform-UK-Chef Richard Tice bald zur peinlichen Farce. Allerorten umschwärmten die Wahlbürger den seit einem Vierteljahrhundert politisch aktiven früheren Europa-Abgeordneten, der Parteichef stand unbeachtet daneben – oder wurde gar, Höhepunkt der Demütigung, von begeisterten Farage-Anhängern gebeten, ein Foto von ihnen mit Farage zu schießen. Am Sonntag habe er über einem Pint in seinem örtlichen Pub entschieden, selbst in den Ring zu steigen, behauptete der Begehrte. Tice habe seine Entscheidung nicht nur entgegengenommen, sondern sogar begrüßt.

Wie fielen die Reaktionen aus? Rishi Sunak gab sich offiziell unberührt. "Am Morgen des 5. Juli wird einer von zwei Leuten Premierminister sein: entweder Keir Starmer oder ich", sagte der amtierende Regierungschef. Hinter verschlossenen Türen freilich herrscht bei den Tories Panikstimmung. Diese wurde zusätzlich geschürt durch zwei sehr umfangreiche Umfragen, wonach die Unterhausfraktion (zuletzt 345 Mitglieder) auf zwischen 180 und 140 Mandate schrumpfen könnte. Dies käme dem Tiefststand von 1906 nahe. Unter anderem sind nach Angaben der Firma Yougov die Sitze von zwölf Kabinettsmitgliedern gefährdet. Triumphierend verkündete der einstige Konservative Farage, die Wahl sei gelaufen: "Labour hat gewonnen." Seine Aufgabe sei es nun, den Briten eine seriöse rechte Opposition anzubieten.

Vorher: Diese junge Frau wird wohl ihre Stimme nicht Farage geben.
AFP/BEN STANSALL
Kurz nachher: Sie "teilt" in Clacton nur ihren Milchshake mit dem Rechtsnationalen.
EPA/TOLGA AKMEN

Er hoffe auf Millionen von Stimmen, deutlich mehr als die frühere Ukip 2015. Damals stimmten 3,8 Millionen Briten für die Nationalpopulisten; wegen des britischen Mehrheitswahlrechts zog aber nur ein Ukip-Mann ins Unterhaus ein, Farage selbst verfehlte das angestrebte Mandat ganz knapp. Wegen eines dabei begangenen Verstoßes gegen das Wahlgesetz erhielt ein konservativer Funktionär später eine Gefängnisstrafe auf Bewährung, ohne dass der Urnengang wiederholt wurde. Wie wirkt sich Farages Rücktritt vom Rücktritt aus? "Das hat die Kopfschmerzen der Konservativen in eine Migräne verwandelt", analysiert Professor Tim Bale von der Londoner Queen-Mary-Universität die Situation. Denn allen Umfragen zufolge würden, anders als 2015 bei Ukip, die allermeisten Reform-UK-Stimmen von jenen Wählern kommen, die bei der vegangenen Wahl 2019 die Tories unterstützt hatten.

Bei Labour knallen die Champagnerkorken

"Jeweils einige Prozentpunkte mehr für Reform UK könnte den Verlust von zusätzlichen zehn, zwanzig Wahlkreisen bedeuten", so Bale. Damit seien die ohnehin geringen Chancen der Tories nochmals gesunken. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass bei Labour die Champagnerkorken knallen." Freilich warnen enge Vertraute des Labour-Chefs Starmer wie der Wahlkampfkoordinator Pat McFadden vor allzu großer Sorglosigkeit. Für die Sozialdemokraten geht es jetzt darum, ihre Wähler auch wirklich zum Gang an die Urne zu bewegen. In Clacton bereitete sich der bisher mit komfortabler Mehrheit ausgestattete Tory-Abgeordnete Giles Watling (71) auf einen harten Kampf vor. Als Erstes werde er seinem neuen Kontrahenten gern einmal die Sehenswürdigkeiten des Wahlkreises zeigen, teilte er verschmitzt mit. In Wirklichkeit richtet sich Farages Blick längst auf die Zeit nach der Wahl und eine Übernahme der Tories "in der Art der Tea Party bei den Republikanern in Amerika", wie Professor Bale vermutet.

Warum kann Farage von einem Tag auf den anderen Parteichef und Kandidat werden? Weil Reform UK keine normale Partei ist, sondern ein Unternehmen mit Farage als Mehrheitseigner (53 Prozent). Die im November 2018 als "Brexit Party Limited" gegründete Firma mit beschränkter Haftung residiert an der Victoria Street unweit des gleichnamigen Londoner Bahnhofs. Im Handelsregister werden als Firmenziel "Aktivitäten politischer Organisationen" angegeben, die Berufsbezeichnung von Direktor Farage lautet "Anführer einer politischen Partei". Die rund 30.000 "Mitglieder", von denen die "Partei" spricht, sind in Wirklichkeit Spendenzahler ohne Mitspracherecht. Das sei "ein fantastisches Modell", weil es rasche Entscheidungen ermögliche, hat Vize-Parteichef Ben Habib der Financial Times anvertraut. Professor Bale vergleicht die Struktur mit der niederländischen PVV des Rechtspopulisten und Muslimenhassers Geert Wilders. (Sebastian Borger aus London, 5.6.2024)