Lena Schilling bei einer Pressekonferenz, im Hintergrund Logo der Grünen 
Grünen-Spitzenkandidatin Lena Schilling bei einer Pressekonferenz.
Foto: Reuters / Lisa Leutner

Ich schreibe seit Anfang 2003 eine wöchentliche Kolumne für den STANDARD. Bisher habe ich gedacht, ich arbeite für eine wahrhaft unabhängige liberale Zeitung. Der Herausgeber, Oscar Bronner (seinerzeit Gründer von Trend und Profil), lud mich ein. Ich bestimme immer selbst meine Themen, und die Chefredaktion hat nie meine Texte geändert.

Nun habe ich aus der Presse von dem geschätzten Ex-ORF-Kollegen Peter Huemer erfahren, dass DER STANDARD in Wirklichkeit ein Organ der "Denunzianten" sei, der "den Wahlkampf der Grünen systematisch kaputtmacht", obwohl "die FPÖ vor der Tür steht" (siehe "Lena Schilling und ihre Verfehlungen sind ein Anfang", 2. 6.). Ja, unser Blatt bietet sogar "eine Anleitung zur Niedertracht". Der STANDARD strebe eine Gesellschaft an, in der niemand vor Verrat sicher sein solle. All das wegen der Berichterstattung der Redaktion über die diversen inzwischen bestätigten "privaten Chats" im Freundeskreis von Lena Schilling, der jungen Spitzenkandidatin der Grünen bei der Europawahl. Anschließend holt Huemer in seiner leidenschaftlichen Streitschrift zum Tiefschlag aus: Das alles sei "der Verrat einer treuen Leserschaft", "Betroffenheit, Ärger, Ekel". Da die Zeitung ihren Kurs geändert habe, kündigten Huemer und seine Frau ihr Abonnement. Was kann überhaupt "der Kurs" einer unabhängigen Zeitung sein?

Für seinen Text gilt der saloppe, aber treffende Ausspruch von Charles-Maurice de Talleyrand: "Was übertrieben ist, ist wertlos." Wer kann diese Verschwörungstheorie ernst nehmen? Huemers Sympathie für die Grünen und erst recht für Lena Schilling in allen Ehren, aber einen indirekten und kaum verschleierten Boykottaufruf gegen den STANDARD zu erlassen ist – gelinde gesagt – der traurige Höhepunkt seiner theatralischen Rhetorik. Sein wohl aus emotionalem Engagement verfasster Text ist übrigens – von der liberalen Warte betrachtet – sinnlos und sogar politisch schädlich, weil er die Aufmerksamkeit von der "vor der Tür stehenden FPÖ", also von der politischen Hauptgefahr, ablenkt.

Reporter und Reporterinnen, Redakteure und Redakteurinnen können natürlich aus berufsbedingter Neugier, aus der Schwäche für die "Curiositas" auch Fehler begehen und unsichtbare Grenzen überschreiten ebenso wie umgekehrt dem Hang zur Beschönigung oder dem berufsbedingten Neid nachgeben. Der politische Alltag in Österreich ist voller Aufklärungsbedarf, was sich an der Fülle der staatsanwaltlichen Ermittlungen, an der Zahl der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und Rechnungshofberichte zeigt. Der Fall Schilling mit der unappetitlichen privaten Vorgeschichte und mit der als Bumerang wirkenden unprofessionellen Reaktion der Grünen-Führung gehört freilich nicht in diese Kategorien. All das, was wir von den "Freunden" und "Freundinnen" der beneideten Spitzenkandidatin gelesen oder gehört haben, bestätigt nur das, was der Basler Historiker Jacob Burckhardt am Rande seiner Weltgeschichtlichen Betrachtungen feststellte: "Auf der Erde ist das Unsterbliche die Gemeinheit."

Der Wert der Unabhängigkeit

Man darf auch in einer gespannten innenpolitischen Lage das Gefühl für das Maß nicht verlieren. Die großen Zeitungen in den Vereinigten Staaten, wie die New York Times oder die Washington Post, waren und sind wegen ihrer Enthüllungsgeschichten über die betroffenen Präsidenten Richard Nixon bis Donald Trump bedroht und verfolgt worden. Es ging und geht dort auch heute um staats- und weltpolitisch wichtige Fragen. Aber auch bei der aus den Fugen geratenen Debatte um die Eignung der Kandidatin einer kleinen Partei in einer Zeit der Gefahren für unsere liberale Demokratie von innen und von außen handelt es sich um grundsätzliche Fragen der Pressefreiheit und der journalistischen Ethik.

Ich möchte zum Schluss deshalb einige Kernsätze über den Wert der Unabhängigkeit von A. G. Sulzberger, dem Herausgeber der New York Times, deshalb zitieren, weil sie auch hinsichtlich der gehässigen Kampagne gegen den STANDARD etwas Grundsätzliches und Treffendes feststellen: "Unabhängigkeit ist die zunehmend umstrittene journalistische Verpflichtung, sich den Fakten zu fügen, wo immer sie hinführen (…) Unabhängigkeit verlangt von den Reportern, eine Haltung des Suchens statt des Wissens einzunehmen (…) Sie erfordert, dass wir das, was wir erfahren, – umfassend und fair – weitergeben, unabhängig davon, wen es empören könnte oder welche politische Konsequenzen es hat. Unabhängigkeit bedingt, dass wir die Fakten klar aussprechen – auch wenn es so aussieht, als würden sie in einem Konflikt eine Seite bevorzugen. Und sie gebietet, dass wir in den häufigeren Fällen, in denen die Fakten unklar sind oder über ihre Interpretation vernünftig gestritten wird, diese Ungewissheit und Zweifel ebenso sorgfältig darlegen." (Columbia Journalism Review, 15. 5. 2023) (Paul Lendvai, 4.6.2024)