Kamasi Washington grüßt die Gemeinde, die nicht nur aus Jazzfans besteht.
Amy Harris/Invision/AP

Streng genommen ist Kamasi Washington ein smarter Absolvent der Jazz-Uni von Innovator John Coltrane, der das Studium wegen großen Erfolges abbrechen konnte. Auch seine Neuheit, Fearless Movement, der der Saxofonist einen Spin Richtung Tanzbarkeit verlieh, bewegt sich tendenziell auf modaler harmonischer Grundlage. Auf dieser mit wenigen Akkordrückungen auskommenden Stilbasis sprudeln hymnische Instrumentalgesänge. In episch gedehnten Stücken wird jene Ekstase beschworen, die für Coltrane ein Pfad zur göttlichen Sphäre war.

Der Unterschied zu Coltrane? Instrumentaltechnisch kann Washington gerne noch für ein paar Übungsstunden an die Coltrane-Uni zurückkehren, um dem Vorbild nahezukommen. Dafür ist der Wuschelkopf ein wahrer Professor der Selbstinszenierung, was ihn auch für die jazzferne Welt interessant werden ließ. Weite, imposant bunte Gewänder, kiloweise Schmuck samt verziertem Stock: Komplett ist ein Imagemix, das erdferne afrofuturistische Ästhetik, aber auch Reminiszenzen an afrikanische Wurzeln bemüht.

Plötzlich neues Leben

Das aktuelle Video zum Stück Prologue belegt, was schon früher so markant rüberkam. Bei Heaven & Earth schwebte Washington stramm über Seegewässern, bei The Epic flog er als Reisender zwischen den Planeten. Wer weiß: Als der Schwerkraft entbundenes Wesen traf er in galaktischen Sphären womöglich einen Meister wie Sun Ra, jenen Big-Band-Leader, der nach seinem irdischen Ableben angeblich auf seinen Heimatplaneten zurückgekehrt war. Jedenfalls hatte er dies vor.

Bei Fearless Movement kreist Washingtons Selbstinszenierung nun um seine Rückkehr auf den Erdboden der Lebenstatsachen. Auf dem Cover ist der Grund abgebildet – seine Tochter, die neben ihm tanzt. "Vater zu sein bedeutet, dass der Horizont deines Lebens plötzlich auftaucht", schildert Washington seine Erleuchtung. "Meine Sterblichkeit wurde mir deutlicher vor Augen geführt, aber auch meine Unsterblichkeit. Ich erkannte, dass meine Tochter weiterleben und Dinge erleben wird, die ich nie sehen werde. Ich musste mich damit abfinden, und das wirkte sich auf die Musik aus, die ich machte."

Die Summe seiner Teile

Die musikalischen Auswirkungen dieser Erkenntnis sind jedoch keinesfalls gewaltig. Washington setzt weiter auf monumentale, ausufernd arrangierte Stücke. Was bei The Epic mit Band, Orchester und Chor begann, findet großteils seine Fortsetzung. An die 30 Musiker und Musikerinnen nehmen an dieser Reise teil, das funkige Get Lit hat sogar Veteran George Clinton als Gast. Im opulenten Sound leuchtet das Individuelle bei Washington also wieder als Summe der von ihm erdachten Musikteile auf. Es ist das Gesamtkonzept, das wirkt.

Der Eröffnungstrack Lesanu setzt mit Beschwörungsformeln gebetartig ein. Umwölkt von orchestraler Orgiastik, die in tanzbare Grooves mündet, über denen eine nette Melodie schlurft, hebt der Saxofonist schließlich in expressive Sphären ab. Wiederkehrend charmant: Die sich überlagernden orchestralen und chorischen Schichten steigern sich immer wieder zu einer Art musikalischem Happening, in dem instrumentale Megalomanie und Intensität Feste feiern.

Washington ist gewissermaßen der originelle Eklektiker, der jazzige Elemente der 1960er- und 1970er-Jahre unbescheiden zum Leben erweckt und sie mit aktuellen und historischen Stilen afroamerikanischer Popkultur mixt. Der Mann aus Los Angeles, der einst vor allem Gangsta-Rap hörte und mit dreizehn zum Saxofon griff, bleibt also auch nach seiner vaterschaftsbedingten "Rückkehr" auf die Erde der energetisch überbordende Konzeptualist seiner imaginären Jazzoper. Auch die Melodie von Asha the First, die von Washingtons dreijähriger Tochter stammt, wird gedehnt und zu imposanter Größe hocharrangiert. Dass er die große Zukunft des Jazz ist, muss Washington allerdings noch beweisen. (Ljubiša Tošić, 5.6.2024)