In Bengaluru freuten sich BJP-Anhängerinnen, während die Stimmen noch ausgezählt wurden.
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Varanasi gilt für viele als Herz Indiens. Zig Millionen Hindus pilgern jährlich dorthin, um ein Bad im heiligen Fluss Ganges zu nehmen. Die Stadt liegt im nordindischen Uttar Pradesh, dem bei weitem bevölkerungsreichsten Bundesstaat des Landes. "UP" gilt somit als Schlüssel zur Mehrheit im indischen Parlament.

Mitte Mai hat Regierungschef Narendra Modi selbst im Ganges gebadet. Damit markierte er, dass er wieder über den Wahlkreis Varanasi zur Parlamentswahl antreten würde. Sein Bad war wie so oft als große Show inszeniert, voll religiöser Beiklänge.

Als am Dienstag die Ergebnisse der Wahl zur Lokh Sabha, dem indischen Parlament, eintrudelten, fassten die Trends aus Varanasi die Überraschung vieler zusammen: Modi hat zwar in Varanasi gewonnen, aber nur knapp. Nachdem der Premier hier vor fünf Jahren noch mit über einer halben Millionen Stimmen Vorsprung deutlich vorne lag, sind es 2024 vermutlich nur noch 150.000. Das ist natürlich ein unumstrittener Sieg, aber der "Modi-Faktor" hat schon einmal deutlich besser funktioniert.

Modi ist drauf und dran, zum dritten Mal Premierminister zu werden – und macht es damit als Erster im Land Jawaharlal Nehru nach. Doch dieser "Modi 3.0", wie es im Land heißt, könnte um einiges schwächer ausfallen als bisher.

Video: Parlamentswahl in Indien: Dritte Amtszeit für Modi wahrscheinlich.
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Keine orange Welle

So bleibt 2024 eine erneute "orange Welle" aus. 2014 hat Modi mit seiner hindunationalistischen BJP, die in der Farbe Orange auftritt, erstmals den Subkontinent überrollt. Und auch fünf Jahre später überraschte die Partei mit ihrer NDA-Allianz mit nochmals mehr Zustimmung: 303 von 543 Sitzen eroberte die Partei damals; mit der Allianz besetzte man ganze 353 Sitze. Die ehemals so große Traditionspartei Kongress unter Rahul Gandhi war dabei auf gerade einmal 52 Sitze geschrumpft. In Indien waren nur noch wenige Regionen in Blau, der Farbe der Kongresspartei, gefärbt.

Zur Überraschung vieler hat sich das Blatt nun gewendet. Da wurde am Dienstag in Delhi nicht nur vor dem BJP-Hauptquartier gefeiert, sondern auch vor dem der Kongresspartei. Denn die BJP konnte nicht an die Erfolge der vergangenen Jahre anknüpfen. Aktuelle Auszählungsstände und Trends weisen ihr rund 240 Sitze im Parlament aus – 272 wären für die absolute Mehrheit nötig. Der NDA-Allianz, der die BJP angehört, wurden Dienstagabend laut Associated Press 285 Sitze zugesprochen. Erstmals, so sieht es aus, könnte Modi einen Koalitionspartner für eine Regierungsbildung brauchen.

Umfragen lagen daneben

Am Wochenende hatte das noch anders ausgesehen. Als nach der sechswöchigen Wahl endlich Exit-Polls veröffentlicht werden durften, deutete alles darauf hin, dass die BJP wieder haushoch gewinnen würde. Die Prognosen zeigten zwar, dass die Regierungspartei ihr überzogenes Wahlziel von mindestens 370 Sitzen nicht erreichen würde. Doch die absolute Mehrheit von 272 sah niemand gefährdet.

Das ging so weit, dass sich Modi am Samstag schon vorab auf X zum Sieger erklärte. Dass ein Premierminister der stolzen Demokratie Indien die demokratischen Prozesse so geringschätzt, irritierte – und bestätigte jene, die ihm ohnehin kritisch gegenüberstehen. So hat Modi über die Jahre seinen Erfolg genau darauf aufgebaut, nach eigenen Regeln zu spielen – und das allgemeine Narrativ sehr aktiv mitzuformen.

Opposition stärker als gedacht

Doch am Dienstag entpuppte sich das allgemeine Narrativ als anderes als erwartet. So fällt nicht nur das moderate Abschneiden der Regierungspartei ins Auge, sondern auch die starken Ergebnisse der Oppositionsallianz. Die Kongresspartei hat sich vor rund einem Jahr mit so gut wie allen namhaften oppositionellen Kräften im Land zur India-Allianz zusammengetan, um dem BJP-Bollwerk Paroli bieten zu können. Viel hat man dem zerstrittenen Bündnis im Vorfeld nicht zugetraut.

Die Umfragen vom Wochenende sahen die Allianz bei gerade einmal etwas mehr als 100 Sitzen. Wie aktuelle Trends zeigen, darf sie sich aber voraussichtlich über fast 200 Sitze freuen. Die Kongresspartei allein kommt dabei wohl auf knapp 100 Sitze.

In Westbengalen freuten sich Anhänger der Trinamool Congress Party über das Abschneiden.
EPA/PIYAL ADHIKARY

Wie es aussieht, hat das "Bollwerk für Demokratie" bei den Wählern einen Nerv getroffen, stärker als angenommen. Und schon im Wahlkampf sahen Analysten eine Müdigkeit in der Bevölkerung nach zehn Jahren mit derselben Regierung. Ein großer Unmutsfaktor im Land ist die hohe Arbeitslosigkeit. Anstatt Jobs zu schaffen, verteile die Regierung Getreidesäcke, hieß es – da fühlten sich viele buchstäblich billig abgespeist anstatt ernst genommen.

Die Kernthemen der BJP gingen dabei weniger auf. Plakativ steht dafür der Wahlkreis Ayodhya: Noch im Jänner hatte Modi dort mit allem Pomp einen umstrittenen Ram-Tempel eröffnet. Nun ist hier der Kongresskandidat vorne.

Durchwachsene Zahlen im Süden

In vielen Hindu-Kernländern im Norden schnitt die BJP trotz allem wie gehabt solide ab. Doch das Ziel, die bisherigen Wahlkreise zu halten und weitere hinzuzugewinnen, verfehlte sie. In Westbengalen konnte die BJP laut den Trends nicht wirklich punkten. Und auch im Süden, wo sie endlich Fuß fassen wollte, ist das Ergebnis durchwachsen. Da hält man zwar weiterhin große Teile von Karnataka, und auch in Andhra Pradesh sind mehrere Kreise orange. Doch im südlichen Schlüsselstaat Tamil Nadu ging die Partei wohl so gut wie leer aus.

Auch im Norden dürfte aber der Blick auf das so wichtige Uttar Pradesh die BJP ernüchtern. Was vor fünf Jahren noch eine großteils orange Fläche war, ist nun ein Fleckerlteppich: etwas Orange, gesprenkelt mit viel Blau. (Anna Sawerthal, 4.6.2024)