Lena Schilling ist jung, die einzige Frau unter den Listenersten bei der EU-Wahl, und sie ist Quereinsteigerin. Den Grünen ist sie im Zuge der Aufregung um ihre Person beigetreten. Zuvor hatte DER STANDARD eine Reihe von Vorwürfen gegen Schilling publiziert, die für erhebliches Aufsehen gesorgt und den Wahlkampf der Grünen ins Stottern gebracht haben.

Lena Schilling ist erst seit rund zwei Wochen Mitglied der Grünen.
Heribert Corn

STANDARD: Wie oft haben Sie in den letzten Wochen an Rücktritt gedacht?

Schilling: Die letzten Wochen waren nicht einfach. Aber ich war gut in ein Team eingebettet. Wir haben offen darüber gesprochen und ausgeschlossen, dass ich zurücktrete. Ich bin angetreten, um fürs Klima zu kämpfen. Ich mache das mit derselben Motivation, derselben Energie auch weiter. Ich will für all die Menschen, die für die Klimagerechtigkeit auf die Straße gegangen sind, ins Parlament einziehen, um dort an einem Hebel zu sitzen, um starke, gute Klimapolitik zu fördern. Für mich war klar, dass ich weitermache.

STANDARD: Schadet die Aufregung um Ihre Person den Grünen?

Schilling: Das werden wir am Wahltag sehen. Es wäre schade. Am Ende des Tages könnten wir vor dem rechtesten EU-Parlament aller Zeiten stehen. Jetzt geht es um die Entscheidung, wie dieses EU-Parlament zusammengesetzt sein wird: ob progressive Kräfte drinsitzen, die für Klimapolitik, für soziale Gerechtigkeit stehen und sich für Frauenrechte engagieren, oder ob da Rechte und Rechtsextreme sitzen, die auf einen roten Knopf drücken wollen, wenn es um die EU geht. Was passiert, wenn man auf den roten Knopf drückt? Dann explodiert normalerweise etwas.

STANDARD: Ein Teil der Vorwürfe, die gegen Sie erhoben worden sind, ist gerichtsanhängig. Wir werden das im Detail nicht durchgehen. Ein Punkt, der immer wiederkehrt, ist aber, dass Sie es mit der Wahrheit offenbar nicht ganz genau nehmen. Was haben Sie daraus gelernt?

Schilling: Ich habe nie mutwillig Gerüchte in die Welt gesetzt oder wollte irgendjemanden belasten. Es kann sein, dass ich in der Vergangenheit Gerüchte, die ich gehört habe, ohne viel nachzudenken, weitererzählt habe. Dafür habe ich mich auch entschuldigt. Das werde ich nicht mehr leichtfertig machen. Mir ist wichtig, dass ich nie irgendwas erzählt hätte, um jemandem zu schaden.

STANDARD: Als Sie Ihre Kandidatur für die Grünen bekanntgegeben haben, haben Sie erklärt, dass Sie die Partei auch weiterhin kritisieren werden. Mittlerweile sind Sie Parteimitglied, und die Kritik hält sich in Grenzen. Dafür hat sich die ganze Parteispitze hinter Ihnen versammelt. Können Sie nach allem, was geschehen ist, überhaupt noch Kritik äußern?

Schilling: Mir ist wichtig, inhaltlich zu diskutieren und kritisch zu sein. Es geht darum, die besten Ideen voranzubringen und für eine Politik einzutreten, die sich reflektiert, die nach vorn geht. Sicher werde ich weiter Kritik üben. Zugleich habe ich in den letzten Wochen die Erfahrung gemacht, dass, obwohl ich hart in der Kritik gestanden bin, die Grünen hinter mir gestanden sind und mit mir gemeinsam kämpfen. Dafür bin ich wahnsinnig dankbar.

STANDARD: Sind Sie mit den Grünen zusammengewachsen?

Schilling: Ja, und das das war gar nicht selbstverständlich. Ich habe als Aktivistin die Grünen sehr, sehr offen kritisiert und kein Geheimnis daraus gemacht, dass mir in der Koalition mit der ÖVP zu wenig weitergegangen ist. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, ob ich kandidiere. Meine Familie war am Anfang nicht der große Fan von dieser Kandidatur. Und ich habe mich mit engen Freundinnen darüber beraten, was das heißt oder was das heißen kann. Am Ende habe ich mich dafür entschieden, weil Klimaschutz eben nur mit den Grünen zu machen ist.

STANDARD: Da dürften auch Freundschaften auf der Strecke geblieben sein.

Schilling: Nachdem, was in den letzten Wochen passiert ist, muss ich wohl sagen, dass manche Freundschaften zerbrochen sind, ja. Ich finde es wichtig, dass man Reflexionsräume hat, und mein Ringen in dem Prozess wurde dann von meinem damaligen Umfeld aus dem Zusammenhang gerissen. Heute weiß ich ganz genau, es sind die Menschen bei den Grünen, die mit Herz und Leidenschaft für das Gleiche kämpfen wie ich.

STANDARD: Wurde aus dem einstigen Hass auf die Grünen also Liebe?

Schilling: Ich habe die Grünen ein Stück weit lieben gelernt.

90 Sekunden mit Lena Schilling
In unserem Format „90 Sekunden mit“ sprechen wir mit den Spitzenkandidatinnen für die EU-Wahl.
DER STANDARD

STANDARD: Hat sich Ihre Einstellung den Medien gegenüber in den vergangenen Wochen verändert?

Schilling: Mir ist wichtig, dass es kritische Medien gibt. Deswegen sitze ich heute da. Ich finde es falsch, wenn Politikerinnen oder Politiker die Arbeit von Medien zu beurteilen oder zu kritisieren beginnen. Der Presserat wird die Berichterstattung einordnen. Das ist der richtige Ort dafür. Da geht es ja nicht um mein Befinden.

STANDARD: Werner Kogler und Sie haben die Vorwürfe als "Gemurkse", "Gefurze" und als "Bullshit" bezeichnet.

Schilling: Wir sind in mehreren Pressekonferenzen auf die Vorwürfe eingegangen. Ich habe versucht, sie einzeln und fokussiert durchzugehen, wo ich das konnte, ohne meine Privatsphäre oder die Privatsphäre Dritter völlig zu brechen. Das "Bullshit" hat sich auf das Gerücht bezogen, dass ich zu Linksfraktion hätte wechseln wollen. Wir haben das widerlegen können. Das hat einfach nicht gestimmt, darum ist es Bullshit.

STANDARD: In dem Gemurkse um das EU-Renaturierungsgesetz kennt sich eigentlich kaum noch jemand aus. Wer blockiert das jetzt? Die Länder? Die ÖVP? Die SPÖ? Die Ministerin?

Schilling: Leonore Gewessler hat gesagt, sie will diesem Gesetz zustimmen. Das halte ich für essenziell. Wir brauchen das Renaturierungsgesetz. Wir erleben eines der größten Artensterben der Geschichte. 140 Tier- und Pflanzenarten sterben jeden Tag aus. Aber es gibt eine aufrechte Stellungnahme der Landeshauptleute zur Blockade – die Ministerin darf nicht zustimmen. Die SPÖ hat angekündigt, die Blockade zu lösen. Bis jetzt ist noch nichts passiert. Wenn sie aufgehoben wird, wird die Ministerin zustimmen.

STANDARD: Auch gegen den Willen der ÖVP?

Schilling: Ja, auf jeden Fall. Es geht um den Schutz der Natur und um die Lebensgrundlage, mit der unsere Kinder aufwachsen.

STANDARD: Auch wenn die Koalition daran zerbricht?

Schilling: Es ist wichtig, das Gesetz durchzubringen. Dann wird man sehen, wie die ÖVP damit umgeht. Seit Beginn der Regierung wird darüber geredet, ob sie in die Brüche geht. Bis jetzt hält sie.

Lena Schilling würde wieder für die Grünen kandidieren, aber ihren Freundeskreis sorgfältiger auswählen. Die Berichterstattung über sie wird der Presserat einordnen, sagt sie.
Heribert Corn

STANDARD: Im Green Deal hat sich die EU darauf geeinigt, bis 2050 klimaneutral zu werden, bis 2030 die CO2-Emissionen um mehr als die Hälfte zu reduzieren. Reicht das?

Schilling: Mir wäre es ein Anliegen, noch einen Schritt weiterzugehen. Aber wir sind in einer Situation, wo wir um jeden kleinen Schritt extrem kämpfen müssen. Ich würde noch stärker bei der Mobilität und dem Verkehr ansetzen. Der Verkehrssektor ist jener, in dem die Emissionen seit den 1990er-Jahren am stärksten steigen. Es ist der, wo man europaweit viel voranbringen könnte.

STANDARD: Die ÖVP geht in die ganz andere Richtung, Kanzler Karl Nehammer will die Speerspitze im Kampf gegen das Verbrennerverbot sein.

Schilling: Die Fronten sind geklärt. Ich halte das für groben Schwachsinn. Ich werde für das Verbrenner-Aus kämpfen. Es geht um die Frage, ob wir mit der Bahn fahren, ob klimafreundliche Mobilität wie der öffentliche Verkehr, aber auch E-Autos die beste und billigste Möglichkeit sind oder ob wir noch zehn Jahre fossile Vergangenheit versprechen und versuchen, an etwas was festzuhalten, das nicht mehr tragbar ist. Wenn wir heute der Autoindustrie sagen: Bis 2035 steigen wir um, gibt es Planungssicherheit, dann gibt es die Möglichkeit, umzurüsten und die Arbeitsplätze zu sichern. Wenn wir aber einen Zickzackkurs fahren, wird das nicht halten.

STANDARD: Die Migrationskrise beschäftigt viele Menschen in Österreich – und ist möglicherweise wahlentscheidend. Die FPÖ will eine Festung Österreich bauen. Auf EU-Ebene wird auch an einer Art Festung gebaut. Stehen die Grünen noch für eine Willkommenspolitik?

Schilling: Festungen in Festungen in Festungen zu bauen wird irgendwann zum Käfig. Es ist ein Konzept, das nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist. Wir brauchen in der Migrationsdebatte mehr Sachlichkeit. Teile des Asyl- und Migrationspakts sind gut, andere Teile muss man überarbeiten.

STANDARD: Wie viele Flüchtlinge verträgt Österreich noch?

Schilling: Obergrenzen sind nicht durchsetzbar. Wir brauchen eine gemeinsame, geordnete Asyl- und Migrationspolitik, wo wir Menschen, die hier kein Bleiberecht haben, auch zurückschicken. Wir brauchen faire Verteilung für all die Menschen, die bleiben. Und wir brauchen Geld für Integration, für Lehrerinnen und Lehrer, für Sprachkurse.

STANDARD: Was soll sich in der EU nach Ihren fünf Jahren im Parlament verändert haben?

Schilling: Ich will dafür kämpfen, dass die klimafreundliche Alternative für viele Menschen mehr Freiheit bedeutet. Dass Leistbarkeit und Klimaschutz zusammengehen, dass wir die Energiewende vorantreiben. Das ist natürlich nicht fix ausgemacht, aber ich würde die nächsten Jahre gerne im Verkehrsausschuss arbeiten.

STANDARD: Offen ist die Frage der Delegationsleitung: Werden Sie oder Thomas Waitz die Grünen anführen?

Schilling: Das wird nach den Wahlen entschieden. Ich kann mir beides gut vorstellen.

STANDARD: Wie lange werden Sie im EU-Parlament bleiben?

Schilling: Ich habe vor, das Mandat anzunehmen und fünf Jahre zu bleiben.

STANDARD: Wo sind Sie in zehn Jahren?

Schilling: Ich weiß es einfach nicht. Ich habe ehrlicherweise auch vor einem Dreivierteljahr noch nicht gedacht, dass ich heute hier sitze als Spitzenkandidatin der Grünen.

STANDARD: Würden Sie die Entscheidung noch einmal treffen?

Schilling: Ich glaube schon. Auch weil die Grünen sich so hinter mich gestellt haben. Vielleicht würde ich mein persönliches Umfeld schon im Vorfeld sorgfältiger aussuchen. Das sind Erfahrungen, die man macht. (Oona Kroisleitner, Michael Völker, 4.6.2024)