In der ostukrainischen Kleinstadt Schtschastja in der von Russland besetzten Oblast Luhansk haben Bauarbeiter ein "modulares Sportlager" errichtet. In dem Städtchen, dessen Name "Glück" bedeutet, sollen 250 Kinder heuer einen "aktiven Urlaub" verbringen. So nennt es zumindest der Leiter der von Moskau illegal annektierten "Luhansker Volksrepublik" (LNR), Leonid Passetschnik, auf Telegram. Doch was die Russische Föderation als "Ferienprogramme" zu propagieren versucht, dient nach Einschätzung der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in Wahrheit der Gehirnwäsche: Alles Ukrainische soll aus den Köpfen der Kinder entfernt werden.

Es ist ein oftmals weniger beleuchteter Aspekt des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine: die massenhafte Entführung und "Umerziehung" ukrainischer Kinder und Jugendlicher durch Russlands Machtapparat. Die Verbrechen drohen in Zukunft noch weiter zuzunehmen, wie das ISW in einer Einschätzung schreibt. Demnach beabsichtige die russische Führung, in diesem Sommer vermehrt Kinder und Jugendliche aus besetzten ukrainischen Gebieten in "Ferienlager" zu schicken, in denen die Minderjährigen "umerzogen" werden sollen.

Eine blutverschmierte Protestierende vor dem UN-Hauptquartier in New York.
Protestierende vor dem UN-Hauptquartier in New York fordern im April 2022 die Rückführung ukrainischer Kinder aus Russland.
Imago/Sipa USA/Lev Radin

Russland verfolgt "Auslöschung der Ukraine"

Das ISW sieht darin einen "weiteren Bestandteil, Russlands genozidale Kampagne in der Ukraine zu konsolidieren". Diese Kampagne habe als Ganzes die "Auslöschung der nationalen Identität und Unabhängigkeit der Ukraine" zum Ziel, so die Denkfabrik. Nach der UN-Völkermordkonvention stellt die "gewaltsame Überführung von Kindern" einer "nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe in eine andere Gruppe" Völkermord dar, wenn dies in der Absicht geschieht, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Eine solche Absicht könne hinter den russischen "Ferienlagern" zumindest vermutet werden, bestätigt das ISW seine seit langem bestehende Einschätzung in einer neueren Analyse.

Doch es sind nicht nur russische "Ferienlager", die dieses Ziel vorantreiben sollen. Russland entführt auch systematisch ukrainische Kinder – oft, um sie von Familien in weit entlegenen russischen Regionen "adoptieren" zu lassen. Auch Babys sind davon nicht verschont, wie die New York Times jüngst für 46 Kleinkinder aus der südukrainischen Region Cherson dokumentierte. Sie waren 2022 nach Russland verschleppt worden. Ihre Eltern wussten in mehreren Fällen nichts über den Verbleib ihrer Kinder.

Mehr noch: Die russischen Behörden gaben den Kindern neue russische Namen und versuchten sie zu russifizieren. Wie der Ukraine-Historiker Serhii Plochy von der Universität Harvard zur New York Times sagte, stehe dahinter die Meinung der russischen Führung, die Kinder seien im Kern ohnehin Russen: "Sie wollen ihr Russischsein beschleunigen, indem sie sie entführen", so Plochy.

Aufgereihte Schultaschen erinnern an Gewalt an Kindern.
Eine Demo in Köln gegen Gewalt an Kinder im Ukrainekrieg.
Imago/NurPhoto

Ein von der New York Times befragter Experte für internationales Strafrecht bewertete das Vorgehen als Kriegsverbrechen – eine Einschätzung, zu der auch der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), Karim Khan, im März 2023 gekommen war, woraufhin er einen Haftbefehl gegen Russlands Machthaber Wladimir Putin und dessen Beauftragte für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, erlassen hatte.

Zurück zu den Kindern und Jugendlichen aus Luhansk: Mehr als 12.000 Kinder aus der russisch besetzten Region Luhansk sollen in diesem Jahr in Lager in verschiedenste Regionen Russlands geschickt werden, so Passetschnik. Ihm zufolge sollen bis zu 40.000 Minderjährige aus russisch besetzten Gebieten der Ukraine am "Sommerprogramm 'Nützliche Ferien'" teilnehmen. Es wäre eine Verdopplung der Zahl der Betroffenen im Vergleich zum Vorjahr. Nach Angaben des ukrainischen "Zentrums für nationalen Widerstand" seien bei solchen Umerziehungslagern schon Fälle physischer Gewalt und sexueller Belästigung bekannt geworden.

Zwangsrekrutierung befürchtet

Neben Gehirnwäsche müssen manche ukrainische Jugendliche auch eine "militärische Grundausbildung" über sich ergehen lassen. Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums in Luhansk haben derzeit etwa an einem "militärisch-sportlichen Austausch" in der südrussischen Region Wolgograd teilzunehmen, wie die für Bildung zuständige Besatzungsbehörde der LNR vor wenigen Tagen auf Telegram schrieb. Die Jugendlichen sollen dort neun verschiedene Kriegsfertigkeiten erlernen, etwa Fallschirmspringen, das Steuern von Drohnen und "taktische Medizin".

Einige Kinder und Erwachsene gehen mit Gepäck auf einen Bus zu.
Ukrainische Kinder kehren via Belarus aus russischen Sommercamps zurück.
Reuters/Valentyn Ogirenko

Schon zu Beginn des Großangriffs häuften sich Berichte, wonach die russisch kontrollierten Behörden in Luhansk und Donezk massenweise erwachsene ukrainische Bürger für den Kampf gegen die Ukraine zwangsrekrutierten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Jugendlichen des Luhansker Gymnasiums in nicht allzu ferner Zukunft ein ähnliches Schicksal ereilen könnten. (Noah Westermayer, 5.6.2024)