Bei den Wiener Festwochen: Jevhen Stankovychs "Kaddish Requiem", dirigiert von Oksana Lyniv.
Oliver Wolf

An sich war an diesem speziellen Festwochen-Abend im Wiener Konzerthaus mit einer Zugabe nicht zu rechnen. Als sie dann tatsächlich ertönte, wurde sie zur eindringlichen Wiederholung des letzten Satzes des Kaddish Requiem "Babyn Jar": Nach der Gottesanflehung durch den Sprecher (Philip Kelz), nach seiner Bitte, der "heiligen Asche die ewige Ruhe, gesegneten, immerwährenden Schlaf" zu schenken, wiederholt der Chor noch diese Worte als finale vokale Geste, welche die Geige schließlich übernimmt. Sie wird zur schmerzvollen individuellen Stimme, deren Melodie in einen letzten Ton mündet, der unaufgelöst wie ein quälendes Fragezeichen im Raum stehen bleibt.

Das siebenteilige Werk des ukrainischen Komponisten Jevhen Stankovych, das mit zehn fallenden Tönen beginnt, die in diversen Verarbeitungen als düster klagende Idée fixe das Geschehen prägen, ist ein tönendes Monument des historischen Grauens. 2016 uraufgeführt, erinnert das Werk an das Massaker in der Kiewer Schlucht Babyn Jar, als 1941 über 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Es war zudem jene Katastrophe, die in der Sowjetunion verschwiegen wurde, wobei Schostakowitschs 13. Symphonie op. 113, komponiert 1961, dieses Verdrängen ebenso thematisiert hat.

Schatten der Toten

Das atmosphärisch kontrastreiche, gemäßigt moderne Werk verlangt vom Kyiv Symphony Orchestra (mit Mitgliedern des Young Symphony Orchestra of Ukraine) Nuanciertheit im Diskreten ebenso wie drängend umgesetzte Dramatik. Hier treten die Schatten der Toten anklagend hervor und begehren nach einem Gericht, das die Frage nach der Verantwortung stellt. Klage und Trauer sind beim Akademischen Chor Dumka gut aufgehoben, wenn es da heißt: "Komme Gericht und komme Strafe / Auf tut sich Babyn Jar ..."

Unter der Leitung der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv entfaltet sich ein grundmelancholischer Wechselgesang zwischen Chor und Solostimmen (Tenor Alexander Schulz und Bassbariton Viktor Shevchenko), den zuvor eine Uraufführung atmosphärisch unterstützend "vorbereitet" hat: Die Todesfuge des 46-jährigen, in Deutschland lebenden ukrainischen Klarinettisten und Komponisten Evgeni Orkin integriert das gleichnamige Gedicht von Paul Celan in ein Ambiente aus Zuspielungen, Orchester, Violine und Sprecher.

Grauen der Menschenvernichtung

Was mit artifiziellen Tonband-Einsprengseln von Wagner-Musik begann, mündete in ebenso schwermütigen wie eindringlichen Situationen, in denen Geiger Andrii Murza und das Orchester – rund um Sprecher Kelz – das von Celan in poetische Worte verwandelte Grauen der Menschenvernichtung in düsteren Klang bannten, in dem sicher auch einige Gedanken an das schlummerten, was der Ukraine gerade angetan wird. (Ljubiša Tošić, 3.6.2024)