Sage mir, was du speist, und ich sage dir, wo du reist. Dieses Ratespiel hat in Europa vor Urzeiten tatsächlich einmal funktioniert. Aber da hatten Speisewagen auch noch Küchen und Bahngesellschaften den Anspruch, landestypische Gerichte zu servieren. Im Jahr 2024 muss man schon froh sein, wenn in einer europäischen Zuggarnitur warmes Essen angeboten wird.

Alter weinroter Speisewagen aus Deutschland in einem Bahnhof
In Europa sind herkömmliche Speisewagen oft nur mehr im Rahmen von Nostalgie-Sonderzugfahrten unterwegs.
IMAGO/Eibner

Während in Ländern wie Frankreich, Österreich und der Schweiz in touristischen Zuggarnituren wie dem Glacier Express die Speisewagen vorerst noch ein fester Bestandteil des Reiseerlebnisses bleiben sollen, nimmt die Anzahl der Bordrestaurants und -bistros europaweit kontinuierlich ab. Mit insgesamt 2300 Mitarbeitenden in 260 Bordrestaurants und 350 -bistros hat die Deutsche Bahn immerhin zahlenmäßig noch die Nase vorn. In kulinarisch aufregenderen Ländern wie Italien oder Spanien sind dagegen nur noch einige Dutzend Speisewagen unterwegs.

Die Gründe für das langsame Verschwinden der Zugrestaurants sind mannigfaltig. Eisenbahngesellschaften versuchen, ihre Betriebskosten zu senken, und Speisewagen sind teuer in Betrieb und Wartung. Reisende bevorzugen immer öfter schnelle Snacks zum Mitnehmen statt vollwertiger Mahlzeiten. Und mit der Zunahme von Billigfluggesellschaften stehen Züge unter noch größerem Preisdruck. Zugtickets sind zwar im Vergleich zu Flügen oft absurd teuer. Doch das wird in Zukunft eher noch weiter zur Reduktion von Annehmlichkeiten wie Speisewagen ­führen.

Österreich

Nusskipferl
Österreich will in Europa eine kulinarische Supermacht werden, zum Beispiel mit dem Nusskipferl von Ölz aus den Automaten der Westbahn.
Westbahn

Wie lautet der fromme Wunsch der Österreich Werbung? Das Land soll eine führende Kulinarikdestination in Europa werden? Hoffentlich reist niemand im Bordbistro der Westbahn dorthin! Die österreichische Küche ist eine Mischkulanz, die sich aus den Zutaten einer untergegangenen Monarchie speist, ihre Fänge reichten bis nach Mexiko. Oder gibt es eine andere Erklärung dafür, dass der Automat, der in der Westbahn den Speisewagen ersetzt, kalte Hendl-Tortillas ausspuckt? Als Alternative (das ist wirklich typisch österreichisch) werden übergewichtige Nusskipferln und weitere viel zu pickige Süßigkeiten angeboten.

Deutschland

Currywurst
Niemand glaubt ernsthaft, dass eine Fahrt mit der Deutschen Bahn eine kulinarische Reise ist.
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Um gut zu essen, fährt man nach Frankreich oder Italien. Niemand macht eine kulina­rische Reise nach Deutschland. Dementsprechend ist das Angebot im Speisewagen der Deutschen Bahn: solide, aber nicht aufregend. Es soll für jeden etwas dabei sein, die Massen brauchen Futter. Chili, Tomatensuppe, Linsen, Spaghetti, Naschkram, Wurstaufschnitt und natürlich Currywurst. Die ist ganz passabel, aber auch hier gilt: Sättigung ist wichtiger als Gaumenkitzel. Bei den Getränken sticht allein der Gin hervor. Den kann man gelegentlich gut brauchen, die Verspätungen der Deutschen Bahn sind ja legendär.

Frankreich

Salat im Plastikteller
Salat im Wegwerfteller ohne Weinbegleitung: Sicher, dass wir in Frankreich unterwegs sind?
Getty Images

Als die französischen Ingenieure den TGV schufen, müssen sie am siebten Tag die Verpflegung vergessen haben: An den ­Stehbars aß man von Beginn weg ... wie soll man sagen ... frankreichunwürdig. Aber so wie sich die Grande Nation in Schüben (Stichwort Revolution) bewegt, sollte 2022 auf einen Schlag alles anders werden: Spitzenkoch Thierry Marx, zwei Michelin-Sterne, ist im TGV neu für "le bar" zuständig. Er kreierte Menüs wie Gerstensalat mit Ei und Erbsencreme (15,90 Euro mit Getränk und Nachspeise). Klingt gut. Aber mundet kaum. Haute Cuisine im Wegwerfteller, das passt nicht. Ohne Wein noch weniger.

Spanien

Iberischer Schinken mit den Brotstängelchen Picos
Erstaunlich fein geht's im spanischen Bordbistro zu: Handgeschnittene Haxe vom iberischen Schwein mit Picos
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Schnittig sind nicht nur die entenschnäbeligen Hochgeschwindigkeitszüge in Spanien. Per Hand von der Haxe des iberischen Schweins wird das Beste geschnitten, was das Land zu bieten hat: Jamón Ibérico im Bocadillo-Baguette oder aus der Snackbox mit Marcona-Salzmandeln und Picos-Brotstängelchen. Die Menüs der Premiumklasse hat Zweisternekoch Ramón Freixa konzipiert: gedämpfte Seehechtfilets mit gebratenem Karfiolpüree oder ­Ibérico-Schweinebäckchen in Sherry-Sauce. Ach ja, ­vegetarisch und vegan setzen sich auch in Spanien Zug um Zug durch, nur koscher und halal muss man 24 Stunden vorab bestellen.

Italien

Keks in weißer Verpackung
Im italienischen Schnellzug:. traurige, trockene Keks statt Pasta oder Pizza
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Pasta, Pizza, Tiramisù: Die Klassiker gibt es nicht im Bistro der Frecciarossa, dem superbequemen und superschicken italienischen Hochgeschwindigkeitszug. Man muss sich mit Tuc-Crackers, Energieriegeln, Cornetti, einem uninspiriert labbrigen Panino auf Tiefkühltemperatur und ähnlicher Tristezza begnügen. ­Wenigstens ist das Bier kalt und der Caffè ­passabel. Tipp für alle Reisenden: mit der Verpflegung warten, bis man am Zielbahnhof angekommen ist, und dann sofort eine Bar ansteuern. Dort, in einer richtigen Bar, beginnt nämlich Italien ­tatsächlich.

Kroatien

Pljeskavica mit Pommes und Kajmak
In Kroatien steht der Speisewagen am Abstellgleis, dafür gibt es eine ordentliche Kost
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Der "Balkan-Express" fuhr ab den 1950er-Jahren von Wien über Graz und Zagreb nach Belgrad mit Kurswagen nach Istanbul und Athen. Heute steht eine Erinnerung an ihn auf einem Abstellgleis hinter dem Bahnhof in Zagreb. In dem Bistrowaggon mit vergoldeten Affenlampen, die dem Fahrgast die Baklava ausleuchten, bekommt man "echtes Essen" in "echten Portionen" wie eben auf dem Balkan. Kein Pipifax. Aus der Pljeskavica, einem Riesenfleischlaberl, trieft der Käse und vermischt sich mit dem Schinken. Die Kalorien würden eigentlich für eine ­ganze ­Familie reichen. Das Großartige am "Balkan-Express", mit dem man nicht verreisen kann, ist nicht nur dieses Übermäßige und dass man für 40 Euro im Nebenwaggon nächtigen kann, sondern auch das Gesamtkunstwerk aus allerbestem schlechtem Geschmack: der grüne Plüsch, auf dem man sitzt, die goldenen Teller und Spiegel, die Aussicht auf coole Graffitis durchs Fenster am Perron 16 und die TV-Screens, die kein Fernsehen übertragen. (red, 4.6.2024)