Weltmeister Ding Liren hat mit massiven Formproblemen zu kämpfen.
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Ding Liren verliert in 31 Zügen gegen Magnus Carlsen. Gut, kann passieren. Der Chinese ist Weltmeister, der Norweger die Nummer eins der Welt. Es geht um das Wie. Und das hatte es beim prestigeträchtigen Norway Chess in sich. Ding übersah am Sonntag in Stavanger die Gefahr durch ein Matt in zwei Zügen. Wo es Amateuren die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, reichte der Chinese die Hand, nahm sein Sakko und zog emotionslos von dannen. Seither fragt sich die Schachwelt: Was ist los mit Ding Liren?

Vor einem Jahr war Ding Liren noch der gefeierte Held. Da setzte er sich in Astana bei der Weltmeisterschaft im Tiebreak gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi durch. Der erste Champion aus China, ein historischer Erfolg. Zumal Schach in China weniger beliebt ist als andere Brettspiele wie Go oder Xiangqi. "Manchmal habe ich geglaubt, ich sei süchtig nach Schach. Ohne Turniere war ich nicht glücklich", sagte Ding nach seinem Triumph. Dann tauchte der Weltmeister monatelang unter. Erst im Jänner 2024 war er wieder bei einem großen internationalen Turnier zu sehen.

Kampf mit Depressionen

Was war in der Zwischenzeit geschehen? Darüber sprach Ding Liren zuletzt in mehreren Interviews. "Ich hatte einige Probleme. Ich war erschöpft, konnte aber trotzdem nicht besonders gut schlafen. Das führte zu einer Depression. Ich wurde zweimal in einer Klinik behandelt. Glücklicherweise wird es langsam wieder besser", sagte der 31-Jährige im April zur Taz. Der Schachsport sei psychisch anstrengend – und wenn man nicht gut schlafen könne, sei das fatal. "Immerhin konnte ich meine Tabletten von einst vier am Tag reduzieren auf derzeit eine."

Selten zuvor hat man einen Sportler so offen über seine mentalen Probleme reden hören. Der aus Wenzhou in der ostchinesischen Provinz Zejiang stammende Ding Liren begann im Alter von vier Jahren mit dem Spiel, gefördert von seinem Vater. Der Weg bis zur Weltmeisterschaft hat dem Schachprofi alles abverlangt. Jetzt steckt er in einem Loch, in der Krise. Beim Klassiker von Wijk aan Zee in den Niederlanden schlug sich Ding Liren im Jänner weit unter Wert und wurde Neunter unter 14 Teilnehmern. In Stavanger steht er nach sechs Runden und vier Niederlagen in Folge gar auf dem sechsten und letzten Platz.

Zurück zum schier unglaublichen Fehler in der Partie gegen Magnus Carlsen: Der mit den schwarzen Steinen spielende Ding Liren hätte nur seinen h-Bauern bewegen müssen, um der offensichtlichen Bedrohung durch die weiße Dame zu entgehen. Stattdessen bewegt er seinen Turm – und erlaubt Carlsen das Matt durch ein Damenopfer und einen nachziehenden Turm. Wie schwierig war es, diese Gefahr zu erkennen? Sagen wir so: Einem mittelmäßigen Hobbyspieler kann so ein Fehler unterlaufen, wenn die Zeit knapp wird. Aber Ding Liren ist der amtierende Weltmeister. Und er hatte mehr als 30 Minuten auf der Uhr.

Hat Ding Liren sich also aufgegeben? Oder hat er die Bedrohung tatsächlich übersehen? Nun, nichts ist undenkbar. Auch einem Großkaliber können fatale Fehler unterlaufen. Als Wladimir Kramnik 2006 in Bonn gegen die Schach-Engine Deep Fritz antrat, übersah der Schachweltmeister ein einzügiges Matt. Hätte der Blechtrottel lachen können, er hätte es wohl getan. So oder so ging das Blackout des Russen als größter Fehler in die Geschichte des Schachsports ein. "So ein Patzer ist mir in meiner ganzen Karriere noch nicht passiert", sagte Kramnik damals.

Chancenlos in die WM?

Bei Ding Liren aber ist es nicht bloß ein einmaliger Patzer, der die Konkurrenz rätseln lässt. Der Allgemeinzustand des Chinesen bereitet Kollegen wie Hikaru Nakamura Sorgen. "Er ist nicht mehr derselbe Spieler wie vor der Weltmeisterschaft", sagt der US-amerikanische Weltranglistendritte. Die ungarische Ex-Weltmeisterin Zsuzsa Polgár geht auf dem Kurznachrichtendienst X noch einen Schritt weiter: "Dies ist wahrscheinlich der schlimmste Niedergang eines amtierenden Weltmeisters in der Geschichte. Er hat noch Zeit, die Dinge vor seinem Match gegen Gukesh zu ändern. Aber dies ist ein Notfall der Stufe fünf!"

Im November soll Ding Liren gegen den 18-jährigen Inder Dommaraju Gukesh seinen WM-Titel verteidigen. Nach derzeitigem Stand ein aussichtsloses Unterfangen. Gibt der Chinese tatsächlich w. o., rückt Nakamura als Zweiter des Kandidatenturniers nach. Noch soll Ding Liren nicht an einen Rückzug denken. Carlsen hat seinen Titel 2023 kampflos abgegeben. Zu Chess.com sagt der Norweger: "Was mit Ding passiert ist, sollte den Leuten klarmachen, wie hart diese WM-Matches tatsächlich sind. Denn wir sind jetzt ein Jahr nach seiner Weltmeisterschaft, und es gibt nicht viele Anzeichen dafür, dass er sich davon erholt hat." (Philip Bauer, 3.6.2024)