Gehören Sie zur "Fraktion Rasenroboter" oder zum "Team Sense"? Wir weder noch. Wir lassen das Gras immer so lange wachsen, dass es der Rasenmäher gerade noch schafft. Der Garten bekommt ungefähr alle vier Wochen einen neuen Haarschnitt in der Art Vokuhila. Denn Teile dürfen abwechselnd immer länger wuchern. Das gibt wilden Blumen und Insekten Zeit zur Entwicklung. Außerdem mögen wir es, wenn Gräser die Wadeln kitzeln.
Dass diese gestaffelte Mahd nicht ganz falsch ist, zeigte unlängst eine Libelle, die sich auf dem verschonten Stängel eines abgeblühten Löwenzahns zur Nachtruhe begab. Ab dem späten Nachmittag haftete sie trotz starker Windböen wie angeschraubt am oberen Ende der Stange. Sie war wunderschön bernsteinfarben. Jeder der vier Flügel hatte an der vorderen Kante jeweils zwei schwarze Flecken. Und obwohl das summa summarum acht Flecken sind, heißt diese Libelle Vierfleck (Libellula quadrimaculata). Entscheidend und namensgebend sind nämlich nicht die Flügelmale an den Flügelspitzen (die haben auch andere Libellen), sondern nur die Flecken an der markanten Querader in der Mitte jedes Flügels.
Unterschied zu Kleinlibellen
Mit einer Flügelspannweite zwischen sieben und achteinhalb Zentimetern gehört der Vierfleck zu den Großlibellen. Die haben wesentlich größere Facettenaugen als Kleinlibellen, oft berühren einander die Augen in der Kopfmitte sogar. Außerdem spreizen Großlibellen beim Sitzen ihre Flügel meistens ab, während die kleinen, schmalen Cousins und Cousinen in Ruhestellung ihre Flügel über dem Körper zusammenfalten. Hier, in einem früheren Blogbeitrag, habe ich versucht, die Unterschiede bildlich zu veranschaulichen.
Unser Vierfleck auf dem Löwenzahn hatte auffallend glänzende Flügel – ein Zeichen dafür, dass er vermutlich noch nicht lange als Imago auf der Welt war. Vielleicht hat er gerade seinen frischgeschlüpften Chitinkörper gehärtet. Das dauert etwa einen Tag. Bei anderer Gelegenheit konnte ich einmal eine Libelle fotografieren, die nur wenige Zentimeter über ihrer alten Hülle auf einem Grashalm saß. Ich glaube, dass es ebenfalls ein Vierfleck war (weiter unten gibt es Fotos).
Das geisterhafte Häutungshemd
Das Szenario war ein wenig spooky. Das Häutungshemd, wie die zurückgebliebene Hülle genannt wird, war hell. Die wissenschaftliche Bezeichnung für das letzte Hemd lautet Exuvie. Die erstarrten Beine klammerten sich immer noch am Grashalm fest. Seitlich war die Exuvie unversehrt, die Oberseite, auf der die Imago aus der Haut fährt, konnte ich nicht sehen. Und über diesem Geisterwesen saß die prächtige Libelle, die auf ihr früheres Ich herabzuschauen schien. Ein bis drei Jahre hat sie davor als Larve im Wasser verbracht und sich bis zu 17 Mal gehäutet.
Anders als bei Schmetterlingen gibt es bei Libellen kein Puppenstadium, die Metamorphose zum fliegenden Insekt vollzieht sich in der letzten Larvenhülle an Land. Fertig ist die Dragonfly – ich finde die englische Bezeichnung für Großlibelle sehr nett, die Kleinlibelle heißt übersetzt Damselfly. Der Vierfleck lebt dann noch rund eineinhalb Monate. Zur Paarung kehren alle Libellen ans Wasser zurück, wo das Weibchen die Eier versenkt. Dabei tippt sie im Flug mit dem Hinterleib immer wieder auf die Wasseroberfläche.
Unseren Gartenvierfleck wollte ich früh am Morgen noch einmal besuchen, weil Tautropfen auf Libellen ein lohnendes Fotomotiv sind und die Tiere nach kühlen Nächten noch träge sind. Aber zu meiner Überraschung war er schon weg. Könnte aber auch sein, dass ich nur geträumt habe, an einem freien Tag freiwillig um halb sechs aufzustehen. (Michael Simoner, 5.6.2024)