Männer mit Prinzipien: Ralf Rangnick und Julian Nagelsmann sind für ihren Prinzipienfokus bekannt.
IMAGO

"Gehts auße und spüts eicha Spü!" ist wieder modern. Nein, nicht weil der progressive Fußballtrainer auf Detailanweisungen verzichtet – einfach weil die Mannschaft längst weiß, was sie zu tun hat. Der Schlüssel zu Toren, Siegen und Titeln heißt seit vielen Jahren Spielprinzipien. "Sie gehören zu den wichtigsten Sachen. Es ist das Grundgerüst, auf das du immer zurückgreifen kannst", sagt Paul Pajduch, Chef der Abteilung Scouting & Spielanalyse von Bundesliga-Meister Sturm Graz, dem STANDARD.

Gut einstudierte Prinzipien sollen Spielern im Idealfall das Denken ersparen oder es zumindest beschleunigen. "Dann hast du für die Ausführung mehr Zeit, und die Aktionen schauen besser aus", sagt Pajduch. Für seine 31 Prinzipien bekannt ist DFB-Teamchef Julian Nagelsmann. Eine kleine Auswahl: Idealerweise berühren seine Spieler den Ball genau zweimal, bei frühen Ballgewinnen soll der Gegner sofort mit Läufen hinter die letzte Verteidigungslinie überrumpelt werden, und in der Defensive sollen Bälle lieber durch erzwungene Fehlpässe als im Zweikampf erobert werden. Der starke Prinzipienfokus ermöglicht es dem Bundestrainer, die Grundformation je nach verfügbaren Spielern und Gegner freihändig zu adaptieren – ob im 4-2-3-1 oder im 3-5-2, jeder weiß, was er zu tun hat. Ein großer Vorteil im ständigen Schere-Stein-Papier-Spiel der Formationen.

Grundsätzlich gebe es beim Thema Prinzipien kein besser und schlechter, sagt Pajduch. "Du kannst aus allem ein Prinzip machen – und wenn es funktioniert, ist es nicht falsch." Sinn der Sache ist immer, die Prozesse möglichst unkompliziert zu machen. Ein Beispiel: "Der Ballführende muss immer zwei Positionen haben, die er anspielen kann – dann weiß ich, ich muss mich irgendwo hinbewegen, wo ich anspielbar bin." Dass die Lehre nicht zu dogmatisch und die Spieler damit zu ausrechenbar werden, ist laut Pajduch ein schmaler Grat. Man müsse aber wissen, was man wolle – die weitere, für jedes Match individuelle Taktik sei dann dafür zuständig, das gegen einen konkreten Gegner in die Tat umzusetzen.

Klarheit

Ist die Klarheit der Prinzipien von Trainer Christian Ilzer ein Grund für Sturms Meistertitel? "Definitiv." Nicht jeder Coach und nicht jeder Verein habe derart klare Vorstellungen – oder eben nicht die passenden Spieler. "Das ist Vereinsaufgabe: Passen meine Spieler zu dem, was ich als Verein spielen will?" Der nun gestürzte Serienmeister Salzburg stehe symbolisch dafür: "Egal mit welchem Trainer, das hat meistens sehr ähnlich ausgeschaut. Dementsprechend ist es leichter, die Mannschaft punktuell zu verbessern."

Paul Pajduch erlebt den Erfolg von prinzipientreuem Fußball mit Sturm Graz.
Sebastian Atzler

Das ÖFB-Team der Ären Foda und Rangnick ist das beste Beispiel für die Notwendigkeit eines zu den Spielern passenden Systems – und für die Schwierigkeit, vom Klubfußball geprägte Individuen in ein gemeinsames System zu pressen. Rot-Weiß-Rot-Connaisseure und andere Traumatisierte mögen sich noch an eine Szene bei Österreichs 3:1 gegen die Färöer im März 2021 erinnern: Nach einem Abpraller will Andreas Ulmer am gegnerischen Strafraum ins Gegenpressing gehen – reflexhaft so, wie er es bei Salzburg seit gefühlt 63 Jahren praktizierte. "Warum, Andi, warum?", schreit Foda von der Seitenlinie.

Nun ja: Der Teamchef hatte recht, zumindest in dieser Szene. Wenn bei Ballverlust nicht das Prinzip Gegenpressing, sondern die Absicherung nach hinten vorgegeben ist, darf keiner aus der Reihe tanzen. Der angepresste Färöer-Verteidiger bespielte mit Leichtigkeit den freien Raum hinter Ulmer. Nun dürfen die großteils Gegenpressing-sozialisierten ÖFB-Kicker gemäß ihrem Naturell auftreten, das Resultat sind eine souveräne EM-Qualifikation und sechs Testsiege in Serie. Immer wieder gelingt Rangnicks ÖFB-Team ein Tor nach einem frühen Ballgewinn, mitverantwortlich dafür ist eines seiner Kernprinzipien: der letzte Schritt im Pressing. "Dass man nicht zwei Meter davor stehen bleibt und Passwege abschneidet, sondern durchgeht. Rangnick sagt 'stempeln' dazu", erklärt Pajduch.

Simple Nationalteams

Geneigten TV-Zuschauern, die die zahllosen EM-Spiele zum Schärfen des eigenen Blicks nützen wollen, empfiehlt Pajduch zum Einstieg die offensichtlicheren Aspekte. "Laufen sie hoch und aktiv an oder eher passiv mit einem tiefen Block? Oder: Wie bauen sie ihr Spiel auf?" Die Bandbreite gehe dann von simpelsten Ansätzen à la "Kurzpässe oder nicht?" hin zu komplexeren, wie sie beispielsweise Roberto de Zerbi bei Brighton etablierte: "Wollen sie immer mit zwei Sechsern aufbauen, die wegklatschen lassen, je nachdem von welcher Seite sie angelaufen werden?"

Bei der kommenden EM lassen sich eher einfachere Prinzipien als im Klubfußball beobachten, da die kurze Vorbereitungszeit allzu starken Tiefgang verhindert, sagt Pajduch. So gesehen eine gute Gelegenheit, mit dem genaueren Beobachten des Spiels zu beginnen. (Martin Schauhuber, 6.6.2024)

Roberto De Zerbi erklärt, wie er das Spiel aufbauen will.
Fussball Coach