Wer hilft der Prinzessin Hamlet dabei, Rache zu üben – und trotzdem ein reflektierter, untadeliger Mensch zu bleiben? Clotilde Hesme in einer Koproduktion mit dem Odéon-Théatre de l'Europe.
Simon Gosselin

Als unglücklichster aller Prinzen ist der Däne Hamlet erstaunlich weit herumgekommen. An den entlegensten Schauplätzen hat man den Zauderer schon angetroffen. Noch in Andrea Breths Burgtheater-Inszenierung 2013 stakste ein windelweicher Prinz, das Fieberaug im Wahnsinn rollend, durch eine Bankfiliale in Krefeld. Es gäbe genug Beispiele anzuführen: Hamlet, Shakespeares prototypische Studie eines unglücklichen Bewusstseins, findet an jedem Ort Zeit und Gelegenheit, die Unentrinnbarkeit des Schicksals zu beklagen.

Dabei ist es bekanntlich nicht gut bestellt um den Staat Dänemark. Gerade mit Blick auf die natürliche Abfolge der Zeit heißt es: "The time is out joint." Was umso bedauerlicher erscheint, da es Hamlet bei den Wiener Festwochen, Ausgabe 2024, eigentlich gut getroffen hat. Wenigstens den materiellen Umständen nach.

Die noch taufrische Produktion des Pariser Odéon-Théatre de l'Europe versieht den tatgehemmten Rächer tatsächlich mit allen Ingredienzien gediegenen Wohlstands. Der gemeuchelte Hamlet senior ist noch in der Videoeinspielung ein maximal attraktiver Reformfürst. Er könnte die Bezirksorganisation der Macron-Partei Renaissance (RE) bequem von der Wohnküche seines Luxusappartements aus leiten.

Leider hat ihn Bruder Claudius (Matthieu Sampeur) ins Jenseits befördert, wodurch Letzterer stolzer Inhaber der Mietwohnung geworden ist. Die Witwe (Servane Ducorps), eine Alkoholikerin mit ernsten Gesangsanwandlungen, hat er gleich mit übernommen. Bei den heutigen Immobilienpreisen in Helsingör ist das alles kein Wunder.

Eine Art Sitzkrieg

Regisseurin Christiane Jatahy hat mit ihrem Spektakel Hamlet in den Falten der Zeit noch anderes im Sinn. Inszeniert wird eine Art Sitzkrieg Übriggebliebener: ein familiäres Stelldichein mit Wohnküchenflair. Hamlet (Clotilde Hesme) besiedelt mit dem Trotz der Verzweiflung eine riesige Wohnzimmercouch.

Wenn das frischgebackene Herrscherpaar zur Antrittsparty lädt, wuselt ein Heer von Hedonisten über den vorgespannten Schleier: alles Projektionen. Im Wiener Volkstheater herrscht Geisterstunde. Man ist sehr froh, dass wenigstens linker Hand, vor der Hi-Fi-Anlage, das Cover von Frank Zappas ingeniösem Hot Rats-Album die Anbindung Hamlets an die historische Subkultur sicherstellt.

Alle anderen Verbindungen in Jatahys französischsprachiger Produktion sind nebulöser, auch unverbindlicher. Die "Gewalt des Patriarchats", von welcher der achtseitige Programmzettel so eindrucksvoll erzählt, erschöpft sich in der gewissenhaften Zubereitung von Mozzarella mit Paradeisern auf der Küchenzeile. König Claudius scheint wenigstens ein untadeliger Chef de Cuisine.

Ophelia (Isabel Abreu), Hamlets unglückliche Verlobte, spricht irgendwann die unsterblichen Sätze aus Heiner Müllers Hamletmaschine: die Ehrenrettung der Frauenopfer; das Ans-Licht-Zerren der aus der Überlieferung Getilgten, die man aus unerfindlichen Gründen dem "schwachen Geschlecht" zugezählt hat. Da wirkt es weniger überzeugend, dass sich Prinzessin Hamlet gegen ihren Sendungsauftrag – Rache zu üben, die Spirale der Gewalt fortzudrehen – im überschnappenden Wahnsinn zur Wehr setzt.

Pubertäres Flair

Die Auseinandersetzung mit Mutter Gertrud atmet pubertäres Flair. Aus der "Falte der Zeit" kommt, dank einiger Hilfe des Projektors, ein Häuflein neurotischer Wohlstandsdänen gekrochen. Sie alle sprechen ein merkwürdig gespreiztes Shakespeare-Französisch (es fallen auch ein paar portugiesische Sätze). Sie alle trinken zu viel Wein, filmen einander mit ihren Smartphones und sind ganz entsetzlich traurig. Sie gehen uns, wie so viele schlecht mit Leben behauchte Stadttheatergestalten, nicht das Geringste an.

Wobei man Frau Hamlet um ihren Aufenthalt am Pariser Jardin du Luxembourg schon beneiden kann. (Ronald Pohl, 1.6.2024)