Frau (links) und Mann (rechts) bei der Stimmabgabe in einer Wahlkabine.
Von 6. bis 9. Juni wählen Bürgerinnen und Bürger der EU das Europäische Parlament. Erwartet wird, dass rechte Parteien erstarken.
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Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni werden für den politischen Mainstream kein Grund zu feiern sein. Parteien rechts der Christdemokraten werden mehr Sitze und Einfluss gewinnen als je zuvor. Sie werden der klare Sieger in mehreren EU-Mitgliedsstaaten sein, darunter Frankreich, Italien, Ungarn, Österreich und die Niederlande. Die Grünen und die Liberalen werden Sitze verlieren. Das nächste Europäische Parlament wird polarisierter und zersplitterter sein als je zuvor. Die nächste europäische Mehrheit wird schwach und zerbrechlich sein.

Und während die nationalen Spitzenpolitikerinnen und -politiker die Europawahlen eher als einen Krieg mit leeren Kugeln betrachten, in dem viele verwundet, aber niemand getötet wird, bleiben die langfristigen Folgen des Rechtsrucks ungewiss. Ist der Aufstieg der Rechten ein struktureller Trend oder eine emotionale Reaktion auf das sich wandelnde Schicksal Europas? Wird er wie in Deutschland eine antiextremistische Mobilisierung auslösen? Wird die Strategie von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, bei der Zusammenarbeit mit den rechten Parteien das Akzeptable vom Unakzeptablen zu unterscheiden, aufgehen?

Post-Brexit

Das entscheidende Merkmal der meisten Rechtsparteien in der EU heute ist, dass sie Post-Brexit-Parteien sind. Das Scheitern des Brexits hat sie geprägt. Die Angst, zu gewinnen und gezwungen zu sein, ihre radikalen Versprechen einzulösen, beunruhigt sie zutiefst. Sie bleiben Euroskeptiker oder Europessimisten, aber nicht offen antieuropäisch. Sie streben nicht mehr danach, aus der Union oder der Eurozone auszutreten, und trotz der jüngsten Gespräche zwischen Marine Le Pen (Rassemblement National) und Giorgia Meloni (Fratelli d'Italia) stellen sie keinen einheitlichen Block dar, sondern sind in wichtigen politischen Fragen, aber auch durch persönliche und nationale Rivalitäten gespalten.

Der von Le Pen kürzlich veranlasste Ausschluss der AfD aus der konservativen Fraktion "Identität und Demokratie" des EU-Parlaments ist das jüngste Anzeichen dafür, wie schwierig es sein wird, alle radikalen Rechten unter demselben Zelt zu halten. Bei Dinnerpartys von Kannibalen können die Gäste leicht zum ersten Gang werden, und die rechten Parteispitzen werden sich dieser entmutigenden Möglichkeit zunehmend bewusst.

"Die extreme Rechte ist nicht besonders gut darin, Migration zu stoppen."

Der Migrationsnotstand stärkte ursprünglich den Zuspruch der Bevölkerung für die extreme Rechte und gab ihr einen gemeinsamen Feind – Migranten und globale Eliten. Doch seit den hitzigen Tagen der Krise 2015–2016 hat sich viel verändert. Die etablierten Parteien sind vorsichtig geworden, sich bei der Migrationsfrage weit aus dem Fenster zu lehnen, und setzen sich stattdessen für die Stärkung der Außengrenzen und eine kapazitätsorientierte Politik ein. An die Macht gekommen, hat die Rechte gelernt, dass Europa tatsächlich Migrantinnen und Migranten braucht, wenn es seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit bewahren und sein Wohlfahrtssystem (zumindest einen Teil) erhalten will.

Eine kürzlich vom European Council on Foreign Relations durchgeführte Umfrage hat gezeigt, dass der größte Effekt der extremen Rechten in Regierungsverantwortung in Italien oder Polen nicht die Verringerung der illegalen Einwanderung ist (die tatsächliche Zahl der Einwandernden ohne Papiere hat zugenommen), sondern die Verringerung der öffentlichen Angst vor Migration. Die extreme Rechte ist also nicht besonders gut darin, Migration zu stoppen, aber sie ist besser als die Liberalen darin, der Bevölkerung zu helfen, sich auf die verändernde demografische Realität in den europäischen Gesellschaften einzustellen.

Zwei "Extinction-Rebellions"

Demografische Angst ist die vorherrschende Stimmung unter Rechten, aber sie ist etwas anderes als Ausländerfeindlichkeit. Es ist die Angst vor einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung und den wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser neuen Realität. Es ist das Trauma des Exodus von jungen Menschen aus Ländern wie Italien oder Regionen wie Osteuropa.

Das zentrale Paradoxon der aktuellen Europawahlen besteht darin, dass das Thema Migration nicht mehr so spaltet wie noch vor fünf oder zehn Jahren. Nicht die Migrationspolitik, sondern der europäische Green Deal könnte am stärksten vom Erstarken der extremen Rechten betroffen sein. Daher wird die Zukunft der EU durch das Aufeinandertreffen von zwei "Extinction-Rebellions" bestimmt. Den Klimaaktivistinnen und -aktivisten, die befürchten, dass das Leben auf der Erde aussterben wird, wenn wir unsere Lebensweise nicht radikal ändern. Und den Großer-Austausch-Rechten, die das Ende unserer Lebensweise befürchten, wenn nicht radikale Maßnahmen in Bezug auf Migration und Fruchtbarkeit ergriffen werden.

Zwei Runden

Die langfristigen Auswirkungen der Europawahl sind besonders schwer zu prognostizieren. Denn Ausprägung und Charakter der neuen europäischen Mehrheit werden in zwei Runden entschieden: Die Europäer wählen im Juni, die US-Amerikaner ihren Präsidenten im November. Der Ausgang der US-Wahlen wird sich in Europa dramatisch bemerkbar machen. Ein Sieg Donald Trumps wird zweifellos die europäische Rechte ermutigen und den Druck erhöhen, größere Geschlossenheit zu zeigen. Aber Trumps Umfragewerte in Europa sind schlecht, und die Fähigkeit der extremen Rechten, seine Politik zu beeinflussen, ist minimal – besonders dann, wenn Washingtons Handels-, China- oder Nato-Politik den strategischen Interessen Europas zuwiderläuft. Die extreme Rechte wird also gezwungen sein, zwischen ihrem ideologischen Bündnis mit Trump und dem Risiko, in Europa als Trumps nützliche Idioten angesehen zu werden, zu wählen. Jeder Internationalismus ist nicht einfach, aber der Internationalismus der Nationalisten ist besonders schwierig. (Ivan Krastev, 1.6.2024)