Kafkas Grab
Bevor Franz Kafka auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag seine letzte Ruhe fand, galt es noch, bürokratische Hürden zu überwinden. Bei der Überführung war ein Bediensteter der Wiener Städtischen Bestattung mit dabei.
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Am 5. Juni 1924 reiste Franz Kafka das letzte Mal von Wien nach Prag. In dem dampfbetriebenen Zug der Franz-Josefs-Bahn, der die beiden zentraleuropäischen Hauptstädte und einstigen Habsburger-Residenzen miteinander verband, saß allerdings nicht mehr der aufmerksame, wenn auch nicht sonderlich gesprächige Autor und Jurist Kafka, sondern es befand sich nur noch das, was von Kafka körperlich übrig war, in einem verlöteten Metallsarg im mitgeführten Güterwaggon.

Todesursache Herzlähmung

Bizarrerweise fuhren mit demselben Personenzug auch Kafkas Lebensgefährtin Dora Diamant, sein Onkel Dr. Siegfried Löwy, der berühmte "Landarzt in Triesch", und der Medizinstudent Robert Klopstock, der dem Freund schweren Herzens und gegen beträchtliche innere Widerstände am 3. Juni, wie es zwischen den beiden vereinbart worden war, Pantopon (pro Einheit 0,1 ml Morphin steril enthaltend) verabreicht hatte. Todesursache: Herzlähmung – wie bei Kafkas aus Florida stammendem Bewunderer, Jim Morrison, der nahezu exakt an jenem Tag in Paris starb, an dem Kafka das 88. Lebensjahr vollendet hätte.

Alle drei Personen zusammen hätten wohl ausgereicht, um darauf zu achten, dass die Fracht unversehrt in Prag angekommen wäre, aber die österreichischen Vorschriften über die Überführung eines Leichnams wollten es anders. Denn Ordnung musste sein, und wo kämen wir hin, wenn sich etwa die damals nicht seltenen Metalldiebe am nördlichsten Zipfel des Waldviertels oder in Mähren des Behältnisses bemächtigt hätten, in welchem der heute bekannteste österreichische Autor eine Art rumpelnde Zwischenruhestatt in einem neuen "Hauptquartier des Lärms" bezogen hatte? Dann wäre wohl die imposante Rechnung für das "Leichenbegängnis Dr. Franz Kafka" erklärungsbedürftig gewesen.

Der dritte Mann

Einen vierten, anonym gebliebenen Begleiter des toten Dichters haben wir nicht genannt, einen Mann, den nicht einmal Kafkas "Witwen" und Biografen wie Binder, Stach und Wagenbach identifizieren konnten. Es war dies ein Bediensteter der Wiener Städtischen Bestattung, der die Aufgabe hatte, den Sarg ordnungsgemäß an der Grenze in Gmünd einem tschechoslowakischen Kollegen zu übergeben. Ordnung musste nicht nur sein, sondern es mussten auch Vorkehrungen getroffen werden, dass es eine für deren Einhaltung verantwortliche Person gab – diese grundsätzlich sinnvolle Maxime galt nicht nur in der k. u. k. Monarchie, deren bürokratische Eigentümlichkeiten dem pensionierten Beamten der Prager Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt bestens vertraut waren, sondern auch in der jungen Ersten Republik. Der räumlich dezimierte, in seiner internationalen Bedeutung klein gewordene Staat mit seiner Zwei-Millionen-Menschen-Tintenburg an der Donau war damals nicht selten mit kafkaesken Ereignissen wie diesem konfrontiert, denn mehr als drei Viertel der Einwohner der 1918 untergegangenen, schwarz-gelben Monarchie waren nun Ausländer. Und wenn jemand, Frau oder Mann oder Kind altösterreichischer Herkunft, in der heimatlichen Erde bestattet werden sollte, dann mussten oft bis zu drei Staatsgrenzen und unzählige – kostenpflichtige – Formularhürden überwunden werden.

Und es konnte auch tatsächlich das eine oder andere passieren, wenn Tote reisten. Diese Erfahrung machte der in Wien-Währing wohnende Autor Arthur Schnitzler, als im Spätwinter 1920 seine Schwägerin Elisabeth, genannt Liesl (geborene Gußmann, verehelichte Steinrück, 1885—1920) in Bayern verstarb. Gattin Olga Schnitzler, die Schwester der Verstorbenen, schlug verständlicherweise vor, dass die Urne in Wien beigesetzt werden solle, am besten im Garten der Sternwartestraßenvilla – allein, die Asche im vasenähnlichen Behältnis wollte und wollte nicht ankommen, obwohl auch Schnitzler, der unter jeder Form von Bürokratie und mehr noch unter horrenden Steuerforderungen litt, ordnungsgemäß für den Transport der Urne einen Leichenpass gelöst hatte. Denn das war Vorschrift im alten neuen Österreich, nur leider wurde in diesem Fall die Leistung zumindest für längere Zeit nicht erbracht, die Urne blieb liegen, erst nach einigen Nachfragen stellte sich eines Tages heraus, dass sie auf dem nahegelegenen Döblinger Friedhof eingelagert worden war.

Kafka und Schnitzler

"Vurschrift is Vurschrift", dachte sich wohl der Bahnbedienstete, der die endzeitliche Fracht nicht an den Empfänger (Hausbestattungen waren in Österreich verboten, Urnen aber vom Verbot ausgenommen, aber wer konnte das schon wissen?), sondern an den nächstgelegenen Friedhof expedierte, ohne die Betroffenen zu verständigen. Obwohl das Verhältnis zwischen Kafka und Schnitzler im Spektrum von Nichtwahrnehmung und Unverständnis bis – zumindest von Kafkas Seite her – Polemik lag, war doch die Reaktion Schnitzlers nicht anders als kafkaesk, als er erstmals vom Ausbleiben und möglichen Verschwinden von Lisls Urne erfuhr; er malt sich aus, was der Dieb in der vermeintlichen Amphore vorgefunden hätte, und dokumentierte diesen fiktiven Moment mit den Worten "Wie hätte Lisl darüber gelacht" – es gibt eben auch eine morbide Form des Humors, vor allem in Wien mit seiner überdimensionalen Nekropolis in Simmering. Erinnert sei nur an die Textzeile von Wolfgang Ambros: "Am Zentralfriedhof is Stimmung, wia’s sein Lebtag no net woa, weu alle Tot’n feiern heute seine ersten hundert Jahr".

Im Fall Kafkas war die Stimmung gedrückt, als der Zug die Donau entlangfuhr, die er dann bei Tulln überquerte. Bedenkt man den heutigen Bekanntheitsgrad Kafkas, so hätten anlässlich einer Überführung im Jahr 2024 vermutlich tausende Menschen die Bahnstrecke gesäumt. Überall wären fahnenwedelnde Kafka-Fans gestanden, mit rot-weiß-roten, hellblauen oder rot-weiß-blauen Fahnen mit dem markanten Dreieck der Tschechischen Republik. Auch das eine andere schwarz-rot-goldene Band wäre zu sehen gewesen, das Kafka einst stolz in der Lesehalle trug und das nunmehr die Nationalität der Biografen und des Marbacher Archivs kennzeichnet, wo Teile des Kafka-Nachlasses zu finden sind, daneben auch israelische und britische Fahnen – Wien und Prag gingen nahezu leer aus, was das Erbe betrifft, Dora Diamant ebenfalls.

An jedem der Kafka-Gedenkorte wäre eine der noch lebenden "Witwen" gestanden und hätte aus einer überdimensionierten Bildbiografie vorgelesen, und tausende, zwangsweise aufgestellte und mit Interpretationsaufgaben gequälte Schüler hätten dem Zug den Rücken für ein "Selfie" zugewandt, während in Wien in drei Theatern gleichzeitig Kafkas Nichtdrama Die Verwandlung abends gegeben worden wäre, wie es jetzt auch tatsächlich der Fall ist.

Teure Ruhestätte

Einer der profunden Kafkologen, Hartmut Binder, hat dokumentiert, was die Überführung kostete. Da damals Inflationsära war, empfiehlt es sich, für die Valorisierung einige Nullen zu streichen. Aufgerundet machte der Rechnungsbetrag der "Wiener Städtischen Bestattung", den Dr. Siegfried Löwy, der Bruder von Kafkas Mutter Julie, beglich, satte 22,8 Millionen österreichische Kronen aus, doch der Sanatoriumsaufenthalt in Kierling hatte für sechs Wochen Aufenthalt und Pflege lediglich 13 Millionen österreichische Kronen verschlungen.

Eine einfache Umrechnung unter Berücksichtigung der Kaufkraft würde diese Relation deutlich machen. Kafkas Begleiter mussten demnach rund 13.000 Euro für den Aufenthalt Kafkas im Kierlinger Sanatorium Dr. Hugo Hoffmann vom 19. April bis zum 5. Juni (Tag der Abholung) bezahlen. Der aus der Bukowina stammende Arzt, Leiter der Kierlinger Sängerrunde und Betreiber der kleinen Privatheilstätte, verlangte einen angemessenen, nicht überhöhten Preis. Hingegen musste Kafkas Onkel Siegfried rund 23.000 Euro an die Städtische Bestattung bar bezahlen. Ohne Saldierungsstempelung der Rechnung wäre kein Transport durchgeführt worden, und der "mährische" Onkel hätte den Gang zur Kasse in der Wiedner Goldeggasse wohl selbst angetreten haben, mit einer Aktentasche voller Banknoten und gemischten Gefühlen. Aber er kannte als Altösterreicher die Bürokratie nur zu gut.

Bestattungsbürokratie

Was waren die Leistungen der Bestattung? Abholung, Einbettung, Überführung mit "Autofourgon" – ein schönes Wort aus der Sprache der Bestattungsbürokratie, Verladung in den Zug, Beaufsichtigung, Dienstleistungen wie zum Beispiel die telefonische Absprache mit der tschechoslowakischen Gesandtschaft, Gebühren, zwei Bahnfahrkarten bzw. vier, wenn man den verpflichtenden Begleiter mitrechnet, in beiden Ländern mussten die Tickets gelöst werden, in der ČSR in den harten Tschechenkronen, es gab kein direktes Verrechnungssystem der damals neu gegründeten Bahngesellschaft ÖBB mit ausländischen Gesellschaften. Gebühren für einen Leichenpass werden in der Rechnung keine ausgewiesen, das könnte der eigentliche Grund der verpflichtenden Begleitung gewesen sein: entweder der gesetzliche Sarg- beziehungsweise Türhüter der Wiener Städtischen Bestattung oder drei Wochen Wartezeit auf den Leichenpass. Nicht nur rituelle Gründe sprachen für die teurere, aber wohl sinnvollere Lösung.

Kafka wurde, das ist heute sogar Prüfungsstoff in manchen heimischen Schulen, am 11. Juni 1924 in Prag (Straschnitz) am Neuen Jüdischen Friedhof (Israelská 712, Prag-Žižkov) beerdigt. Das Grabmal schuf Leopold Ehrmann, der aus Strakonitz in Mähren stammende Selfmade-Architekt, dem Prag ein modernes und gelungenes Wohngebäude von 1930 verdankt und die Welt jenes Doppelprismas, das den Grabstein mit der hebräischen Inschrift und der Eloge für den Lehrer Amschel, einen "prächtigen ledigen Mann" von 40 Jahren, bildet. Die Lebensgefährtin des unverheirateten Autors und pensionierten Beamten, Dora Diamant, weinte und schrie sogar auf, als man Kafkas weitgereisten Sarg endlich im Boden versenkte. (Gerhard Strejcek, 2.6.2024)