Der Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg aus der Perspektive der Abgeordneten. Am 9. Juni bei den Wahlen werden die Mehrheitsverhältnisse neu geordnet.
Der Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg aus der Perspektive der Abgeordneten. Am 9. Juni bei den Wahlen werden die Mehrheitsverhältnisse neu geordnet. Europas Rechte dürften dazugewinnen, aber die Zentrumsparteien eine klare Mehrheit behalten.
ELYXANDRO CEGARRA via www.imago-

Knapp eine Woche vor den Europawahlen zeichnen sich quer durch die 27 EU-Staaten mehrere Trends deutlich ab. Nur ein paar wenige Themen dominieren praktisch überall.

Erstens: Wie kriegt man Wirtschaft und Klimaschutz unter einen Hut? Die Industrie muss auf eine Weise flottgemacht werden, dass Wohlstandsniveau und Sozialstaat erhalten, Ressourcen aber geschont werden. Der Druck durch den Klimawandel mit all seinen Schäden ist hoch. Der Wandel wird viel Geld kosten, den Staat und auch privat. Und die globale Konkurrenz schläft nicht.

Zweitens: Der Krieg in der Ukraine lastet schwer auf Europa, wirtschaftlich und was die Sicherheit betrifft. Psychologisch drückt er auf die Gemüter.

Drittens schließlich: Quer über den Kontinent wird ernsthaft diskutiert, ob die Demokratie in Europa in Gefahr ist; ob die Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte gewährleistet sind.

Dieser Themenmix zeigt, warum diese EU-Wahl wichtiger und fataler ist als alle bisherigen seit Einführung der Direktwahl des Parlaments 1979. Zweifel und Kritik gab es immer. Aber plötzlich sieht es für viele so aus, als ob der friedliche – um nicht zu sagen: gemütliche – Kurs der Gemeinschaft kippen könnte.

"Es geht um die Zukunft!"

Der Satz "Es geht um die Zukunft!" klang bei früheren Wahlen nach Anpassung, nach überschaubaren Reformen. 2024 hat er einen bedrohlichen Unterton, so als würde auf den Plakaten stehen: "Diesmal geht es um alles!" Tatsächlich ist es ein Novum, mit welcher Vehemenz, wie grundsätzlich und breit diesmal die Existenz der EU als solcher infrage gestellt wird. Ob "das System", wie Rechtspopulisten sagen, nicht gleich ganz gekippt werden solle. Ob "die EU der Konzerne" entsorgt werden müsse, wie die Linke denunzierend erklärt.

Solche Angriffe erfolgen aufgrund unterschiedlicher Motivation. Es ist kein Zufall, wenn sich eine antikapitalistische Jugendbewegung, die sich um das Klima und den Planeten sorgt und sich "Letzte Generation" nennt, viel Sympathie genießt. Die Jungen sorgen sich, dass die Ökozeitenwende verpasst wird. Aber wo ist die realistische Alternative? Kompromisslos lassen sich 27 Staaten nicht führen.

Zurück in die Vergangenheit?

Ganz anders die Rechtspopulisten, die extrem Rechten: Sie wollen zurück in die Vergangenheit. Die Union, eine Gemeinschaft in einer offenen europäischen Gesellschaft, soll durch Nationalstaaterei ersetzt werden. Wer die EU als "Kriegstreiber" verunglimpft und "EU-Wahnsinn" plakatiert, wie die Freiheitlichen in Österreich, der will nicht nur Reform: Die FPÖ und ihre extrem rechten Partner wollen die EU geradezu sturmreif schießen: Matteo Salvini, Geert Wilders, Viktor Orbán – und wie sie alle heißen.

Dazwischen versuchen sich die traditionellen Parteien – Christ- und Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – als Bewahrer zu behaupten. Traut man den Wahlprognosen, tun sie dies mit mäßigem Erfolg, aber doch. Liberale und Grüne dürften mehr Mandate verlieren als die beiden Volksparteien.

Dennoch sieht es danach aus, als bliebe die Europäische Union auch nach dem Wahltag politisch stabil. Die Mitte dürfte halten – stark genug, um mit Mehrheit ein moderates Programm für die neue EU-Kommission mitzutragen. In einem Arbeitsparlament wie in Straßburg kommt man mit brutal-populistischen Ansagen à la Harald Vilimsky trotz Mandatszugewinnen nicht weit. Und auch nicht mit "goschert sein", wie es die Grüne Lena Schilling weiter sein möchte. Dort sind andere Qualitäten gefragt. (Thomas Mayer, 1.6.2024)