Unter mangelndem Selbstbewusstsein hat Donald Trump nie gelitten. Am Ende des Prozesses um seine Schweigegeldzahlung an die Pornodarstellerin Stormy Daniels – mit bürgerlichem Namen Stephanie Clifford – verglich er sich mit einer katholischen Heiligen und Friedensnobelpreisträgerin: "Mutter Teresa könnte gegen diese Anklage nicht bestehen." Da ahnte er wohl schon, was ihm blühte.

Unverbesserliche Trump-Fans halten offenbar wenig von den Erkenntnissen der US-Justiz: Sie wollen einen Verurteilten im Weißen Haus sehen und fordern ihn sogar auf, "Amerika zu übernehmen".
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Nun also wird die Liste der skandalösen Tabubrüche des 77-Jährigen um gleich zwei historische Rekorde ergänzt: Die zwölf Geschworenen des New Yorker Kriminalgerichts haben ihn am Donnerstagabend als ersten Ex-Präsidenten in der US-Geschichte wegen einer Straftat verurteilt. Zugleich ist er der erste – erstinstanzlich – als Krimineller Verurteilte, der reale Chancen hat, ins Weiße Haus einzuziehen.

Wie im Mafiathriller

Dieses Paradoxon bremst die spontane Genugtuung darüber, dass der Mann, der sich selbst brüstete, folgenlos einen Menschen auf der Fifth Avenue erschießen zu können, nun tatsächlich zur Verantwortung gezogen wird. Der Schuldspruch selbst ist überfällig und mehr als berechtigt: Niemand kann nach der sechswöchigen Verhandlung daran zweifeln, dass Trump im Vorfeld der Wahl 2016 seine Affäre mit der Pornodarstellerin mit allen Mitteln kaschiert hat. Die Augenzeugen im Gerichtssaal müssen sich zeitweise gefühlt haben wie in einem Mafiathriller.

Ein Freispruch oder das Scheitern des Verfahrens wäre ein Offenbarungseid des amerikanischen Rechtsstaats und ein politischer Turbo für Trump gewesen. Dazu ist es nicht gekommen: "Schuldig in allen 34 Anklagepunkten!" Jedem aufrechten Demokraten muss ein Stein vom Herz fallen.

Bitterer Beigeschmack

Doch es bleibt ein bitterer Beigeschmack. Seit Jahren schon trägt der Milliardär, der sein Geld mit windigen Immobiliendeals und unerhörten Steuertricksereien machte, seine Verachtung für demokratische Normen und Regeln immer demonstrativer zur Schau. Ein großer Teil seines Erfolgs beruht auf dreisten Lügen, übelsten Verleumdungen und kriminellen Einschüchterungen. Er prahlt mit seinen sexuellen Übergriffen auf Frauen, diffamiert seine Kritiker, pöbelt Richter und Staatsanwälte an. Er hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erpresst und – mutmaßlich – von Beamten Wahlfälschungen verlangt, hochgeheime Regierungsunterlagen entwendet und schließlich einen blutigen Putschversuch angezettelt.

Andere würden längst hinter Schloss und Riegel sitzen. Stattdessen schickt Trump sich an, in einem halben Jahr ins Weiße Haus zurückzukehren – in das mächtigste und damit verantwortungsvollste Amt der Welt. Diese Katastrophe droht nicht aus heiterem Himmel: Sie entfaltet sich offen spätestens seit Trumps Weigerung, das Ergebnis der Wahl 2020 anzuerkennen. Doch die US-Institutionen haben es versäumt, den Durchmarsch des Gesetzesverächters und Möchtegernautokraten zu stoppen.

Zwei Amtsenthebungsverfahren durch den US-Kongress sind gescheitert. Drei weitreichende Strafverfahren wegen der versuchten Wahlfälschung, des Sturms seiner Anhänger auf das Kapitol und des Dokumentenklaus wurden von Politik und Justiz erst ängstlich hinausgezögert und dann von Republikanern blockiert. So muss Trump vor der Wahl im November keinen einzigen ernsthaften Prozess mehr fürchten. Übrig geblieben ist nur der jetzige Schuldspruch in dem bei weitem unwichtigsten Fall: bei der Fehlbuchung von 130.000 Dollar in seinen Geschäftsunterlagen.

Fans prahlen mit Fahndungsfoto

Wird das im extrem polarisierten Klima der USA irgendetwas an den Erfolgschancen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten ändern? Nach den Erfahrungen seit der ersten Anklage vor mehr als einem Jahr sind Zweifel angebracht. Seither sind Trumps Umfragewerte noch gestiegen. Nun dürften nicht nur Wochen bis zur Verkündung des Strafmaßes vergehen, die der republikanische Präsidentschaftskandidat mit dem Gang in die Berufung kontern wird. Selbst eine – eher unwahrscheinliche – Gefängnisstrafe würde er also nicht vor der Wahl antreten müssen.

Vor allem inszeniert sich der Rechtspopulist erfolgreich als politischer Märtyrer. Stolz tragen seine Anhänger T-Shirts mit seinem Fahndungsfoto auf ihrer Brust. Nichts an den Fakten im Schweigegeldprozess war wirklich neu. Wer trotz allem bislang erwogen hat, Trump seine Stimme zu geben, der wird sich durch ein formales Urteil nun davon kaum abschrecken lassen. (Karl Doemens, 31.5.2024)