Flaggen verschiedener EU-Länder im Vordergrund, rechts im Hintergrund zu sehen ist Josep Borrell.
Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, koordiniert die Außenpolitik der 27 Mitgliedsländer. Aber reicht das aus?
Foto: AP / Virginia Mayo

Die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes entscheidet darüber, ob die Europäische Union sich zu jenem geopolitischen Akteur entwickelt, den wir aufgrund der Weltlage brauchen, wenn wir als Europäer noch eine Rolle auf der Bühne der Weltpolitik spielen wollen. Um es anders, aber direkter zu formulieren: Die volle Unterstützung der Ukraine mit allem, was sie braucht, um die russische Aggression zurückzuschlagen, wird darüber entscheiden, ob es in 15 Jahren noch eine handlungsfähige Union gibt oder ob Europa unter beherrschenden russischen (und chinesischen) Einfluss gerät.

Noch immer herrscht bei vielen Menschen der Eindruck vor, das Europäische Parlament sei nicht so wichtig. Politische Parteien tendieren dazu, die Europawahl mit nationalen oder gar lokalen Themen zu besetzen. Wählerinnen und Wähler nutzen die Europawahl, um der heimischen Regierung eines auszuwischen oder um sie zu bestätigen. Das ist kurzsichtig. Das Europäische Parlament ist Mitgesetzgeber auf Ebene der EU.

Nationale Egoismen

Falls jetzt jemand mit dem Einwand kommt, das Europäische Parlament sei doch kein echtes Parlament, weil ihm das Initiativrecht fehle, dann ist das formal wohl richtig. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass es Mitgesetzgeber ist. Die meisten nationalen Parlamente stimmen vor allem über Regierungsvorlagen ab, was nicht gerade ein Argument für die Notwendigkeit des Initiativrechtes ist.

Das Institutionengefüge der EU mit Rat, Kommission und Parlament bietet eine Balance zwischen Intergouvernementalität und Supranationalität. Wenn die nationalen Egoismen im intergouvernementalen Element Rat zu stark sind und der Rat damit insgesamt zu schwach für eine europapolitische Dimension wird – die vielen Blockaden, die es derzeit bei verschiedenen Erweiterungsfragen gibt, sind ein starker Beleg für diese Schwächen –, müssen das die supranationalen Elemente Kommission und Parlament ausgleichen. Dann muss die Kommission als Hüterin der Verträge die geopolitische Dimension der EU vorantreiben und braucht dazu die Kontrolle und Unterstützung eines starken Parlamentes.

Massive Herausforderungen

Das Europäische Parlament ist übrigens keine Vertretung der Mitgliedsländer auf EU-Ebene. Auch wenn das Nationalisten gerne so hätten. Durch seine erste Direktwahl vor 45 Jahren hat es eine eindeutig europäische Verantwortung bekommen. Es ist also die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger mit Verantwortung für das Ganze.

Und diese Verantwortung für das Ganze ergibt sich aus der geopolitischen Lage, die insbesondere für Europa massive Herausforderungen bringt. Die europäische Einigung begann im Schatten des Kalten Krieges im freien, westlichen Teil des Kontinentes. Mit der Aufnahme von früher unter Militärregierungen stehenden Ländern wie Portugal, Spanien oder Griechenland wurde klargemacht, dass es der Gemeinschaft um die Ausdehnung von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft ging. Ein Konzept, in das nach dem Fall des Eisernen Vorhanges auch mehrere ehemals kommunistisch regierte Länder eingebunden wurden.

"Die Fähigkeit, das Friedensprojekt Europa auch nach außen und nicht nur nach innen wirken zu lassen, wurde vernachlässigt."

Die Illusion, dass nun der ewige Friede ausgebrochen sei, hat dazu geführt, dass man die eigene Verteidigungsfähigkeit geschwächt hat. Die Friedensdividende wurde kassiert, die europäische Außen- und Sicherheitspolitik und damit die Fähigkeit, das Friedensprojekt Europa auch nach außen und nicht nur nach innen wirken zu lassen, vernachlässigt.

Klarer Weckruf

Schon die Kriege des Slobodan Milošević waren ein klarer Weckruf für die EU, eine außen- und sicherheitspolitische Dimension zu entwickeln. Er wurde genauso wenig gehört wie der russische Angriff auf Georgien 2008 oder die Ukraine im Jahr 2014. Genau diese Schwäche hat der Tyrann von Moskau mit seinem Vernichtungsangriff auf die Ukraine im Februar 2022 ausgenutzt. Vielleicht hat er damit kalkuliert, dass die Reaktionen schwach wie immer ausfallen werden, vielleicht haben aber auch manche europäische Politiker vollmundig die Unterstützung für die Ukraine zugesagt, weil sie damit gerechnet haben, dass die Ukraine in einer Woche zusammenbrechen würde.

Dass sie das noch immer nicht getan hat, liegt einerseits an der westlichen Hilfe, andererseits aber am Bekenntnis der Ukrainerinnen und Ukrainer zu Europa und dem Willen, das Land für alle Zukunft aus der Umklammerung Moskaus zu lösen. An diesem blutigen Krieg wird sich auch zeigen, ob die EU durch die strategische Unterstützung der Ukraine die Fähigkeit entwickelt, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten.

Parlamentarische Kontrolle

Europäische Außenpolitik bedeutet nicht nur Koordinierung der Außenpolitik von 27 Mitgliedsländern durch den Hohen Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sondern ein EU-Außenministerium mit einem Außenminister (oder einer Außenministerin) an der Spitze.

Dazu brauchen wir einen Kern einer europäischen Verfassung, in der genau diese außenpolitische Kompetenz für die Union festgeschrieben wird. Ein Punkt übrigens, der auch allen Anforderungen der Subsidiarität entsprechen würde. So wie jetzt jeder Außenminister der parlamentarischen Kontrolle seines Landes unterliegt, würde ein EU-Außenminister der parlamentarischen Kontrolle des direkt von den Bürgerinnen und Bürgern der EU gewählten Europäischen Parlamentes unterliegen.

"Souveränität bedeutet die Fähigkeit, zu handeln und zu gestalten."

Hier geht es genau um jene Frage der Souveränität, von der viele nationale Egoisten so gerne sprechen. Denn Souveränität bedeutet im konkreten Fall die Fähigkeit, zu handeln und zu gestalten. Eine europäische Außenpolitik würde vom Potenzial her einen eindeutigen Mehrwert gegenüber einer reinen Nationalstaatspolitik bringen.

Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist nur ein Beispiel für die geopolitischen Herausforderungen, die Europa zu meistern hat. Man denke an den Krieg im Nahen Osten oder die Entwicklungen in Afrika, die über Migrationsströme direkte Auswirkungen auf Europa haben. Mit der Europawahl werden entscheidende Weichen gestellt. Wir brauchen ein außen- und sicherheitspolitisch starkes und einiges Europa, um die Herausforderungen zu meistern. (Karl Habsburg-Lothringen, 2.6.2024)