Irgendwann während des Swipens auf Tiktok, nach fünf Minuten oder eineinhalb Stunden, wer weiß das schon so genau, wenn man im Bett liegend auf eine App starrt, die Dinge mit dem Belohnungssystem im Gehirn macht, ruft mich die Europaministerin an. Oder zumindest schaut es so aus. Das Video von Karoline Edtstadler beginnt mit einem gefakten Anruf: "Karoline Edtstadler", darunter ein Foto der Ministerin, Annehmen- und Ablehnen-Buttons, untermalt mit einem iPhone-Klingelton. Stressig. Aber immerhin holt mich der Schock kurz aus meinem Tiktok-Delirium.

Collage aus verschiedenen Tiktoks zur Europawahl
Auf Tiktok Inhalte zur EU-Wahl zu finden ist einerseits sehr viel einfacher, andererseits auch sehr viel verstörender als gedacht.
Collage: derStandard/Friesenbichler Fotos:TikTok

"Es ist nicht die Millionenshow, sondern die Österreichische Volkspartei!", sagt Edtstadler nicht zu mir, sondern zu einem türkisen Unterstützer. Die Ministerin sitzt im Callcenter und fragt, "was wir dem Reinhold Lopatka ausrichten können". Der Angerufene wünscht sich vom ÖVP-Spitzenkandidaten für die EU-Wahl ein Eintreten für ein "starkes Europa", Edtstadler tippt eifrig mit.

Ein Swipe nach rechts

Die Botschaft ist angekommen, die Volkspartei hat es auf meine For-You-Page geschafft – also auf die Startseite der App, die automatisch Videos liefert, die mir gefallen könnten. Aber erreicht man mit derlei Clips wirklich erstwählende 16- und 17-Jährige? Also Angehörige einer Generation, die bekanntermaßen nicht unangekündigt angerufen werden wollen?

Am 9. Juni gebe ich zum vierten Mal meine Stimme für das Europäische Parlament ab – aber für eine Woche tue ich für eine chinesische Kurzvideo-App so, als wäre ich ein Erstwähler der Generation Z – und informiere mich vor allem auf Tiktok über die EU-Wahl. Das ist einerseits sehr viel einfacher, andererseits auch sehr viel verstörender als gedacht.

Ganz schnell überschwemmt nämlich Maxmilian Krah meinen Feed. Der Spitzenkandidat der extrem rechten Alternative für Deutschland (AfD) ist plötzlich überall. Mit dümmlichen Propagandareden in die Kamera ("Der Pride-Month, der ist abgesagt. Stolz statt Pride") und noch viel öfter in von Fans gemachten Slideshows. "In der Politik ist es wie im Straßenverkehr", steht über einem Foto des rauchenden Krah, "rechts vor links" als Auflösung beim nächsten Bild: einem biertrinkenden Krah.

Spionage und SS-Verharmlosung

Untermalt sind die Videos häufig mit Gigi D’Agostinos L’amour toujours, das dank eines viralen Videos singender Schnöselrassisten, die bei ihrer Sylt-Sause zum Beat "Ausländer raus" intonieren, urplötzlich zur Demagogenhymne geworden ist.

Dass Krahs Mitarbeiter für Russland spioniert haben soll und verhaftet wurde, dass die rechte Europafraktion die AfD wegen Krahs SS-Verharmlosung ausgeschlossen und die deutsche Partei Krah weitere Auftritte verboten hat, erfahre ich auf Tiktok hingegen nicht.

Pronomen? "Volks/Kanzler"

Und überhaupt hat die App zwar schnell begriffen, dass ich Deutsch spreche – aber natürlich nicht, dass ich nur in Österreich wahlberechtigt bin. Immerhin gibt es Slideshows mit plumpen Witzen auch mit Herbert Kickl ("Meine Pronomen? Volks/Kanzler"). Und ein Tiktoker der Tiroler FPÖ-Jugend erklärt, dass die Vielfalt der europäischen Länder zwar etwas Nettes sei – aber dass sich "diese nicht vermischen sollen". Es bleibt offen, ob er die unterschiedlichen Konzepte von Europa meint oder die angesprochenen "Völker" des Kontinents.

Es gibt aber nicht nur rechte Propaganda auf Tiktok. Etliche Accounts bemühen sich um sachliche Infos zur Wahl, allen voran das Europäische Parlament selbst. Da laufen Leute in schnell geschnittenen Videos durchs Parlamentsgebäude und erklären die unterschiedlichen Altersgrenzen fürs Wahlrecht in Europa (Griechenland: 17 Jahre), wie Gesetze entstehen (kompliziert) und wie wichtig es ist, wählen zu gehen (sehr).

Auch die Stadt Wien lässt Katzen einen Aufruf miauen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, auf dem Tiktok-Kanal der Zeit im Bild wird Bundespräsident Alexander Van der Bellen über die Union interviewt.

Europapa, Europapa

Natürlich ist das ein bisschen wie der Gartensalat im Fastfood-Restaurant. Die Videos sind informativ und gut gemacht. Aber einen Wisch weiter wartet viel Aufregenderes. Etwa ein alkoholverherrlichender Schlagersong ("Ich trink’ heut, das ist kein Witz, Aperol, Aperol, Aperol Spritz"), Popstar Dua Lipa, die die Kinder in ihrer früheren Schule überrascht, Fake News über einen vermeintlichen Todesfall bei den britischen Royals und Joost Klein, der zwar als niederländischer Beitrag vom Eurovision Song Contest disqualifiziert wurde, aber auf Tiktok immer noch hundertfach singt: "Welkom in Europa, blijf hier tot ik dood ga, Europapa, Europapa."

Die Konkurrenz macht es hart. Auch für mich. Denn damit mir der Algorithmus Videos zur EU-Wahl anbietet, sollte ich sie anschauen. Und andere Inhalte möglichst ignorieren. Trotzdem bleibe ich immer wieder bei Europapa statt beim Europaparlament hängen.

Schnell weiterwischen

Ich muss mich zwingen, den "richtigen" Content zu schauen. Zum Beispiel die Tiktok-Creators, die die Wahlprogramme der Parteien durchgeackert haben und die wesentlichen Punkte knapp schildern. Oder Politikinteressierte, die mithilfe eines Filters jene Parteilogos ranken, die der Reihe nach auf ihrer Stirn erscheinen. Junge Journalistinnen, die erklären, wie man einen Stimmzettel richtig ausfüllt. Allerdings auch den Mann, der vor einer Jause oder mit einem Glas Cola in der Hand über Politik sinniert und mit erstaunlichem Selbstbewusstsein über die Fehler der Grünen fachsimpelt. Schnell weiterswipen.

"Welkom in Europa, blijf hier tot ik dood ga, Europapa, Europapa."

Begriffsverwirrung im EU-Seminar

Ein Lieblingsthema der Politik-Tiktoker ist der Unterschied zwischen Europäischem Rat, Rat der Europäischen Union und Europarat. Die verwirrenden Bezeichnungen der drei Institutionen haben schon Politikwissenschaftsstudierende aus den Europa-Seminaren getrieben – dass junge Auskennerinnen und Auskenner sie dem Tiktok-Publikum näherbringen wollen: lobenswert. Aber zielführend? Ich habe die Antworten auch schon wieder vergessen. Auf zum nächsten Tiktok.

"Europapa papa papa papapa ..."

Es scheint schwierig, mit politischen Infos auf Tiktok durchzukommen. Aber auch beim Fernsehen, in Gesprächen oder bei Plakatwänden kann ich mich schnell abwenden. Vielleicht ist Tiktok auch nur die Realität auf Speed.

"Europapapa – hey!" (Sebastian Fellner, 31.5.2024)