US-amerikanische Waffen wie das Army Tactical Missile System (ATACMS), im Bild bei einer Gefechtsübung in Australien,werden von der ukrainischen Armee schon jetzt gegen russische Ziele in den besetzten Gebieten und auf der Krim eingesetzt.
AP/Sgt. 1st Class Andrew Dickson

Möglicherweise war der gemeinsame Auftritt von Emmanuel Macron und Olaf Scholz am Dienstagabend eine Art Durchbruch – oder zumindest eine Weichenstellung innerhalb der Nato. Denn der französische Staatspräsident sprach sich zum Abschluss seines offiziellen Staatsbesuches in Deutschland – flankiert von dem bisher zögerlich-vorsichtigen deutschen Bundeskanzler – klar und deutlich dafür aus, dass man der Ukraine alle Möglichkeiten geben müsse, sich effizient zu verteidigen. Das sollte heißen: Militärische Ziele in Russland anzugreifen – naheliegenderweise mit westlichen Waffen – dürfe für die Militärführung in Kiew kein Tabu mehr sein.

"Wir müssen ihnen erlauben, militärische Stützpunkte zu neutralisieren, von denen aus Raketen abgeschossen werden", sagte Macron – nicht nur ermutigend an die Adresse Kiews gerichtet, sondern ganz offenkundig auch ermunternd in Richtung Washington gemeint.

USA "zuversichtlich"

Bei der US-Regierung wurde der Ball tags darauf auch sofort aufgenommen: Es war US-Außenminister Antony Blinken, der plötzlich Flexibilität erkennen ließ, nachdem die USA den Einsatz von Nato-Waffen über die Grenzen der angegriffenen Ukraine hinaus monatelang als absolutes No-go bezeichnet hatten. Man müsse die Lage bewerten und sich an die verändernden Bedingungen anpassen, sagte Blinken am Mittwoch während einer Kurzvisite in der Republik Moldau, dem kleinen Nachbarland im Südwesten der Ukraine. "Ich bin zuversichtlich, dass wir das auch weiterhin tun werden."

Blinken wurde bei einem Medientermin gefragt, ob sein Chef – US-Präsident Joe Biden – wohl zu einer Aufhebung der bestehenden Einschränkungen bewegt werden könne. Blinkens Replik: Washington habe der Ukraine Angriffe mit US-Waffen auf Ziele außerhalb der Ukraine weder ermöglicht noch sie dazu ermutigt. Die Ukraine müsse aber selbst entscheiden, wie sie sich am besten verteidigen könne. "Wir werden dafür sorgen, dass sie die dafür notwendige Ausrüstung erhält." Am späten Nachmittag wurde dann bekannt, dass Biden die Erlaubnis erteilt hat - allerdings nur für russische Ziele in der Umgebung der umkämpften Stadt Charkiw.

In den mehr als zwei Jahren seit Kriegsbeginn hätten sich die USA als entschiedene Verbündete der Ukraine stets gemeinsam mit dieser bemüht, "sich anzupassen, wenn die Bedingungen sich verändern, wenn das Schlachtfeld sich ändert, wenn Russland sein Handeln verändert". Vielsagender Schlusssatz: "Ich bin zuversichtlich, dass wir das auch weiterhin tun werden."

Antony Blinken am Donnerstag beim Treffen der Nato-Außenminister in der Nähe von Prag.
EPA/MARTIN DIVISEK

Würden die USA also den Einsatz eigener Waffen durch die ukrainische Armee – freilich unter Beachtung strenger völkerrechtlicher Vorgaben und nur bei solchen Zielen, von denen das Land aus angegriffen werde – gutheißen? US-Medienberichten zufolge soll Blinken mit seinem Chef im Weißen Haus und mit dem Verteidigungsministerium schon seit längerer Zeit über die strategischen und taktischen Folgen einer solchen Politik diskutieren. Das berichtete nun zum wiederholten Male auch die New York Times. Mit solchen Informationen konfrontiert, wollte das State Department (US-Außenministerium) diese weder kommentieren noch dementieren.

Kreml droht neuerlich

Kurz bevor Blinken sich in Moldau zu der Frage äußerte, hatte John Kirby, der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, in Washington noch bekräftigt, es gebe "keine Änderung" der US-Politik: "Wir ermutigen weder dazu noch ermöglichen wir den Einsatz von US-Waffen auf russischem Boden", sagte er in ganz offenkundig akkordierter Regierungsrhetorik. Doch wie kurze Zeit später Blinken hatte auch Kirby die Parole ausgegeben, dass die USA ihre Unterstützung "schon bisher an die sich verändernden Bedingungen auf dem Schlachtfeld und die Bedürfnisse der Ukraine angepasst" hätten. Dies werde auch künftig der Fall sein.

Die USA stellen der Ukraine ihre Waffen bisher unter der Bedingung zur Verfügung, dass diese nur direkt die von den russischen Aggressoren besetzten Gebiete befreit – eine Verwendung für Angriffe auf Russland selbst ist allerdings untersagt. Offiziell geändert hat die US-Regierung ihre Position nicht – doch es scheint sich nun ein Wording durchzusetzen, das unterscheidet zwischen "Angriffen auf Russland" und "Angriffen auf militärische Ziele in Russland, von denen die russische Armee aus die Ukraine attackiert".

Bei allen Szenarien – egal ob diese vehementer vom Franzosen Macron, zurückhaltender vom Deutschen Scholz oder mehrdeutig von den Amerikanern Blinken und Kirby kommentiert werden – wurde und wird betont, dass sich die Ukraine an das Völkerrecht zu halten habe. Für Macron ist – wie berichtet – sogar denkbar, dass die Ukraine Militärbasen weit hinter der russischen Front ins Visier nimmt. Er rechne nicht mit einer weiteren Eskalation.

Doch genau mit einer solchen droht Moskau. Am Donnerstag bekräftigte der Kreml seine Warnung an den Westen, sollte die ukrainische Verteidigung tatsächlich dazu übergehen, Ziele in Russland anzugreifen. "Dies alles wird natürlich unweigerlich seine Folgen haben", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Schon am Dienstag hatte Präsident Wladimir Putin gedroht: "Diese ständige Eskalation kann zu ernsten Konsequenzen führen. In Europa, besonders in den kleinen Staaten, sollten sie sich bewusstmachen, womit sie da spielen." (Gianluca Wallisch, 30.5.2024)