Putin
Russlands Machthaber Wladimir Putin fordert von der Nato ultimativ den Abbau aller Nato-Einrichtungen in Osteuropa.
AP/Alexander Kazakov

Gehen wir einmal vom schlimmsten Fall aus: Im November wird Donald Trump wieder zum US-Präsidenten gewählt und dreht gleich nach seinem Amtsantritt am 20. Jänner 2025 der Ukraine die Militärhilfe ab. In den folgenden Monaten bricht die ukrainische Front zusammen, und die russische Armee marschiert in Kiew und Odessa ein.

Wladimir Putin nutzt diesen Triumph aus und fordert von der Nato ultimativ den Abbau aller Nato-Einrichtungen in Osteuropa, also de facto die Auflösung des westlichen Verteidigungsbündnisses. Trump erklärt, dass er ohnehin kein Interesse hat, Europa zu verteidigen, und zieht US-Truppen mit ihrer Ausrüstung ab. Moskau provoziert Unruhen in der russischsprachigen Bevölkerung in Estland und Lettland und kündigt militärische Bruderhilfe an. Die Nato ist durch die Untätigkeit der USA gelähmt, die EU-Verteidigungsminister beraten verzweifelt, was sie ohne den großen Verbündeten gegen die russische Bedrohung tun können. Die kurze Antwort: im jetzigen Zustand wenig.

Größer und stärker als Russland

Das liegt nicht daran, dass Russland militärisch dem Rest Europas überlegen wäre. Die EU hat eine dreimal so große Bevölkerung, ist wirtschaftlich überlegen und gibt zusammen rund viermal so viel für Rüstung aus wie Putins Reich. Aber "kriegstüchtig", wie es der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius ausgedrückt hat, sind die Europäer nicht.

Ohne die USA, die fast 70 Prozent aller Militärausgaben in der Nato stemmen und das Bündnis allein deshalb anführen, geht der ­Allianz ihre Schlagkraft verloren. Und eine eigenständige EU-Verteidigungsstruktur, der sich vielleicht auch Großbritannien und Norwegen anschließen würden, ist weder realistisch noch von allen gewünscht.

Das Problem ist vor allem politisch: Kein Staat kann den Platz der USA einnehmen. Frankreich und Deutschland ringen um die Führungsrolle und wollen sie niemals dem anderen zugestehen. Ein Staatenbündnis kann sich auf wirtschaftliche und andere Regeln viel eher einigen als auf eine gemeinsame Verteidigung. Das erklärt, warum Außen- und ­Sicherheitspolitik in der EU bisher nicht ernsthaft vergemeinschaftet wurden. Jeder Beschluss erfordert Einstimmigkeit, kann daher durch nationale Vetos verhindert werden.

"Die Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten ist in Europa deutlich geschrumpft." Stefan Lehne, EU-Experte bei Carnegie Europe

Selbst bei der Rüstungsbeschaffung, wo man mit einem gemeinsamen Vorgehen viel Geld sparen könnte, stehen nationale Sonderinteressen einem gemeinsamen Vorgehen im Weg. Die Rüstungsausgaben in Europa sind seit dem russischen Überfall auf die Ukraine massiv gestiegen, sagt Stefan Lehne, Europa-Experte im Thinktank Carnegie Europe – von 240 Milliarden Euro auf heuer rund 350 Milliarden Euro. "Aber die Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten ist deutlich geschrumpft. Sie fragmentieren entlang nationaler Linien." So gebe es in den USA 30 Panzertypen, in Europa aber 178. "Daraus resultiert ein unglaubliches Defizit an Effektivität, und das ist geopolitisch betrachtet eine sehr negative Entwicklung", sagt Lehne. Während Staaten wie Frankreich auf den Aufbau einer eigenen europäischen Industrie drängten, setzten Deutschland und Polen weiter auf die enge Zusammenarbeit mit den USA. "Dieser Konflikt ist das größte Handicap in der europäischen Verteidigungspolitik seit 30 Jahren", sagt Lehne.

Im Angesicht einer existenziellen Bedrohung lassen sich solche Differenzen zwischen Staaten meist beilegen, werden selbst frühere Feinde zu Verbündeten, werden Pazifisten zu Kriegern und ganze Staaten auf Kriegswirtschaft umgestellt – so etwa im Zweiten Weltkrieg. Aber wie groß ist die Gefahr, die von ­Putin ausgeht? Lehne möchte da nichts ausschließen. "Niemand hat damit gerechnet, was im Februar 2022 passiert ist", sagt er. "Wenn das ukrainische Abenteuer für Putin günstig ausgeht, dann will er wohl nicht die Sowjetunion wiederherstellen, vielleicht aber das Zarenreich." Nicht nur Moldau, sondern auch die EU- und Nato-Staaten im Baltikum wären dann bedroht.

Etwas anders sieht das die in Wien tätige Politologin Velina Tschakarova. "Das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland bleibt gering, genauso das Risiko eines nuklearen Austausches", sagt sie. Das sei jedoch kein Grund zur Entspannung: "Russland verfolgt das Ziel, die nach 1945 entstandene Sicherheitsarchitektur zu zerstören und die geopolitische Vorherrschaft auf dem Alten Kontinent zu erringen." Das gelinge am besten durch wirtschaftliche Erpressung mit Rohstoffen sowie politische Einmischung durch Desinformation, um die Staaten auseinanderzu­dividieren. Eine Stärkung prorussischer rechter Parteien bei den Europawahlen am 9. Juni wäre ein Schritt in diese Richtung.

Rückgang der Unterstützung

Offen ist auch die Frage, wie lange die Europäer auf die Unterstützung der USA noch zählen können. Lehne rechnet bei einem Wahlsieg Trumps zwar nicht mit einem sofortigen Rückzug der USA aus der Nato. "Aber es ist denkbar, dass das US-Engagement für die europäische Sicherheit schrittweise heruntergefahren wird", sagt er. Selbst unter einer weiteren Biden-Präsidentschaft würde sich der Schwerpunkt der US-Sicherheitspolitik weiter in den pazifischen Raum verschieben.

"Russland verfolgt das Ziel, die geopolitische Vorherrschaft auf dem Alten Kontinent zu erringen." Politologin Velina Tschakarova

Trump würde vor allem einzelne europä­ische Staaten gegeneinander ausspielen, wie er es schon in seiner ersten Amtszeit getan hat, und so die Einigkeit des Kontinents weiter untergraben, ist Lehne überzeugt.

Was können die Entscheidungsträger in Europa tun, um diese Entwicklung abzuwehren? Für Tschakarova ist der erste Schritt, die Ukraine bei der Verteidigung gegen die russische Aggression uneingeschränkt zu unterstützen, von neuen Waffenlieferungen bis hin zur Entsendung von Nato-Truppen zum Schutz der Westukraine. "Dass sich die russische Seite trotz aller Fehler in diesem Krieg relativ gut schlägt, liegt vor allem daran, dass sich der Westen nicht auf ein endgültiges gemeinsames Ziel einigen kann."

Wie soll man das bezahlen?

Für Lehne ist der Ausbau der europäischen Rüstungsindustrie entscheidend, um die Abhängigkeit von den USA zu verringern, eine Verbesserung der Kooperation sowie eine weitere Steigerung der Ausgaben. Der jüngste Vorschlag der EU-Kommission, die grenzüberschreitende Beschaffung bis 2040 massiv auszubauen, gehe in die richtige Richtung, stoße aber auf Widerstand. Finanziert werden könne dies durch zweckgebundene gemeinsame Schuldenaufnahme oder eine Ausweitung des Mandats der Europäischen Investitionsbank (EIB) auf Verteidigungsprojekte. "Das wird aber in Deutschland anders gesehen – und auch am Ballhausplatz", schränkt er ein.

Wenig hält Lehne von europäischen Strukturen außerhalb der Nato. "Eine Rivalität zur Nato hat wenig Sinn, eine europäische Armee ist nicht aktuell. Notwendig ist eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato." Doch wie dieser Pfeiler genau aussehen soll, darüber herrsche selbst zwischen Frankreich und Deutschland keine Einigkeit. (Eric Frey, 1.6.2024)